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Kapitel 1
Mel
(vom 18.10.2003)

Mel, Erik, Koray, Josch, Christina... die Liste wollte kein Ende nehmen. Noch weitere 22 Namen wurden aufgerufen. Sie alle hörten ihre Namen, doch nicht alle blickten auf. Nur einige sind wirklich anwesend. Mel träumt schon wieder von ihrem nächsten Diskobesuch: Wie sie die ganze Samstag Nacht tanzen würde und im Rausche ihrer Euphorie alles um sich herum vergessen würde. Auch diesen bedrückenden Schulalltag, der sich an diesen Montag morgen wieder breitmacht. Sie würde nur für den Augenblick leben. Sie hört noch die Musik, die aus den Boxen der Unabhängigkeit klingt. Sie hätte sich völlig in ihrem Traum verloren, wenn nicht plötzlich die Musik abreißen würde und sie stattdessen das unruhige Gepolter der Schuhe ihres Lehrers wahrnehmen würde. In Verbindung mit der Unheilverkündenen Stimme, die nach den Hausaufgaben fragt ist die Disharmonie perfekt. Nicht einmal die Flucht in seine Traumwelt ist einem bei diesem Alltagsstress vergönnt.

Es gibt keine Magie, es gibt nur Zeit und Raum „das ist nun mal die Realität. Daraus gibt es kein Entkommen, wenn Du mal was werden willst.

sagt schon immer ihre Mutter und diese hatte wohl damit Recht! Sie muss Recht haben – wird ein Jeder sagen, denn Frau Nazarski ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Sie arbeitet acht Stunden am Tag in ihrem Hochtechnisierten Büro im Clement-Gebäude in Düsseldorf. Mit dem Blick auf dem beruhigenden Rhein, der wohl zukunftsweisenden Koordination der Kollegen bei den Konferenzen, durch das angenehme Durchwälzen von Akten unter der Obhut des Rheinturms der anmutig und sorgsam galant das rege Treiben im Gebäude durch die Fensterscheiben, die das komplette Gebäude überziehen und es somit transparent erscheinen lassen beobachtet, durch die Fachsprache, die sie und ihre Kollegen fortwährend nahezu unbedacht benutzen und nicht zuletzt durch die nächtelange Arbeit, die Frau Nazarski in ihr mindestens genauso technisiertes Bürozimmer mitbringt wird deutlich, dass sie es zu was gebracht hat. Beispielhaft kaufte sie sich ein 1200 m² Haus in der Peripherie der Stadt, vorbildlich arbeitet sie fast 14 Stunden am Tag, beeindruckend versorgt sie ihre Tochter mit Equipment und 350 Euro Taschengeld im Monat, erstaunlich organisiert sie ihr Leben sogar ohne Freizeit und Menschlichkeit – ein Idol für die Jugend, würde die Bundesanstalt für Arbeit gewiss dazu sagen. Und wenn jemand Ahnung vom Leben hat, dann wohl sie! – behauptet wohl ein Jeder. Doch Mel will das heute alles gar nicht. Sie wollte doch nur ihre Ruhe haben, Musik hören, harmonisch mit ihren Freunden reden und den Moment genießen. Natürlich will sie auch mal einen tollen Beruf haben, damit sie sich den Cocktail, den sie Samstagabend immer genüsslich und zeitverloren im SLIDERS trinkt während sie mit ihrer besten Freundin über ihre Probleme spricht auch noch leisten kann. Sie mag auch dieses ganze Technikzeugs nicht, dass ihre Mutter dauernd anschleppt – hier eine Stereoanlage, dort ein Palmtool, noch eine Playstation (obwohl sie schon eine hat, aber dies war ja jetzt die Playstation 2 oder 3... sie weiß es nicht, aber ihre Mutter meinte die wäre besser) und, und, und. Vor lauter Technik kann man ja gar nicht mehr atmen! – denkt sich Mel stets, doch ihre Mutter erwidert bei diesem Gedanken, dass für den Sauerstoff ja die Bäume zuständig seien und dass sie sich ja keine Sorgen darüber machen solle. Im gleichen Moment legt sie dann meistens 30 neue Blätter Druckerpapier in den Drucker. Das liegt daran, dass ihr – wenn sie von Bäumen spricht immer ein Symbol einfiel, dass ihr jedes mal ins Auge fällt: das kleine Bäumchen am unteren Rand der Packung – sie weiß nicht warum es da sein sollte, aber sie findet es schön. Sie hätte ja mal nachgelesen, warum dort unten das Bäumchen abgebildet ist, aber das ist dann in dem Moment meist irrelevant, denn sie muss die Packung schnell wegwerfen, da sie in 5 Minuten wieder ein Termin hätte und da kann man sich einfach nicht mit Dekorationsbildchen beschäftigen. Aber das Bäumchen ist auf den Packungen wirklich hübsch, denkt sich Mels Mutter als sie einen letzten schnellen Biss von ihrer Currywurst genießt – für mehr ausgewogene Mahlzeiten hatte sie heute ausnahmsweise keine Zeit. Mel hat genauso einen Hang zur Natur wie ihre Mutter. Sie mag Pflanzen, geht gerne spazieren und beobachtet unheimlich gerne Schmetterlinge, die durch das Sonnenlicht gestärkt über das Biotop des örtlichen Waldes schweben. Wie verzaubert lauscht sie dem Vogelgesang, der fast vom Rauschen des anliegenden Flusses übertönt wird. Manchmal – wenn sie ganz ruhig ist, dann trauen sich sogar einige Bewohner des Waldes zu ihr. Sie konnte schon ein Kaninchen streicheln und einem Eichhörnchen den Weg zeigen. Hier verbringt sie oft die Sonntage bei schönem Wetter – doch heute regnet es und es ist auch Montag.