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Kapitel 10
Gastarbeiter
(vom 21.10.2003)

Die erste Pause ist zu Ende und Mel hätte nur noch eine Doppelstunde Informatik vor sich und dann könnte sie schon wieder nach Hause fahren. Diese Begegnung der besonderen Art, wie sie es jetzt bezeichnet hat sie heute morgen gefreut. Sie rechnete eher damit, dass Erik kein Kontakt mit ihr haben wolle. Na ja, sie vertrat doch dieses Image der angeberischen, aufgetakelten, arroganten Reichen aus einem wohl bekannten und überdrehten Elternhaus. Sie kennt zwar Christina und verbrachte auch freundschaftlich schöne Stunden mit einigen ihrer Klassenkameraden, die ihr sympathisch erscheinen, aber sie hat doch keine wirkliche Freundschaft und offensichtlich schien auch niemand daran interessiert. Aber wenn sie sich ihre Mutter und ihr Leben betrachtet, dann kann sie das auch niemanden übel nehmen. Mel mag Christina sehr gern. Sie findet es toll, dass sie immer so lebensfroh und so temperamentvoll ist und dass sie immer genau das sagt, was sie denkt. Christina schien ihr wie ein echtes Vorbild in Selbstbewusstsein und Individualität. Man kann mit ihr genauso viel Unsinn machen und lachen wie ernst mit ihr und über Probleme reden auch wenn Christina gelegentlich etwas melancholisch ist. Das ist ihre Tina. Einen Kosenamen durfte sie ihr schon geben, sie verbringen viel Zeit miteinander und teilen ihre Sorgen, da besteht eine Basis für eine sehr intensive Freundschaft. Als Freundschaft beschreibt Mel diese Beziehung auch, aber Christina ist da sehr zurückhaltend und offensichtlich gibt sie sich noch nicht mal Mühe Worte dafür zu finden. Mel will ihrer Tina da überhaupt keine Vorwürfe machen, denn vielleicht ist sie ja nur zurückhaltender. Vielleicht plagt sie auch schlechte Erfahrung. Aber so weh wie es Mel manchmal tut, muss sie auch die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass Christina nicht interessiert an einer richtigen Freundschaft ist. Wenn Tina dann abends geht, wenn sie sich getroffen haben, dann will Mel oft etwas sagen, doch dann ist sie wie traumatisiert und mehr als ein „Tschüß“ will ihren Mund dann nicht verlassen. „Beim nächsten Treffen werde ich es sagen. So schwer ist das ja auch nicht.“ Und je mehr Zeit die beiden trennt, desto mehr Mut fasst dann Mel. Aber je näher sich die beiden dann wieder kommen, desto eingeschüchterter ist Mel: „Bitte geh noch nicht, ich weiß es ist schon spät, ich will Dir noch was sagen. Ich weiß nur nicht wie es geht“. Einstimmig singt sie dann abends oft bei diesem „Ärzte“ - Lied mit, denn es spricht ihr aus dem Herzen, auch wenn sie keine partnerschaftlichen Absichten bei Christina beabsichtigt. Sie redet manchmal 8000 Worte am Tag, aber es ist eine Ironie, dass diese vier Worte so schwer fallen können: Ich habe Dich lieb. Und eine einfache Umarmung wäre doch auch mal schön! Aber dazu gehört ne Menge Mut und sie kann einfach den ersten Schritt nicht tun, denn wenn Tina das nicht mag, dann ist ihr das mehr als nur peinlich. Aber die Begegnung vorhin mit Erik empfand sie als sehr schön. Es schien fast so als ob das Geschehen heute Schicksal war. Jetzt hatte Mel wieder eines ihrer Lieblingsfächer, was nur ironisch zu verstehen ist: Informatik! Sie hätte es ja nicht gewählt, aber ihre Mutter suggerierte ihr förmlich oktroyierend, dass sie Informatik wählen sollte, damit sie sich auch mit der entsprechenden Technik auskennt, da das EDV - Knowhow in jedem Beruf Grundvoraussetzung sei und für das was sie mal werden sollte alle mal – vielleicht sollte sie auch die Nachfolgerin von ihrer Mutter im Clement-Gebäude werden. „Alle Türen stehen Dir offen.“ Jedes Mal, wenn Mel den Informatikraum unwillig und lustlos betritt denkt sie an diesen einprägsamen Satz, den ihre Mutter ihr argumentativ immer mit auf dem Weg gibt. Doch was ist, wenn diese Türen mal kaputt sind? Vielleicht aus Verschleißerscheinungen!? Vielleicht passt auch nicht jeder Mensch durch alle Türen und vielleicht ist der Raum hinter der Tür auch einst ein anderer als man erwartet!? Und was passiert, wenn man plötzlich einsehen muss, dass es kein Haus ist, dass man durch eine Tür betritt, sondern das man auf die Illusion einer Fassade hereinfiel, die sich im Fluss der Zeit gebildet hat?

Aber es gibt Thesen, die aus dummen Fragen entstehen! Und dumme Fragen gibt es schließlich!

Der Informatiklehrer hatte mal wieder schrecklich unanschaulich dargelegt, wie die anstehende Aufgabe zu lösen sei und Mel interessiert sich beim Computer sowie so am wenigsten für das Programmieren, sondern eher für Vorgänge im Rechner, für Hardware und Anwendungen, die nicht erst zu programmieren sind. Also hat sie jetzt die Aufgabe erhalten und keine Ahnung, wie sie sie bewältigen sollte. „Es geht auch wieder um ein essentielles Thema, das die Welt bewegt“, denkt sich Erik gerade, der auf der entlegenen Seite des Informatikraumes neben Josch sitzt und bei dem munteren Austausch, auf welchen Internetseiten sie jetzt die neuesten Witze lesen könnten fällt Erik erstmals auf, dass Mel auch in seinem Informatikkurs ist. „Ja, ja! Ich sehe Dir schon wieder an, dass Du denkst, dass endlich Weltfrieden wäre, wenn man dieses essentielle Thema an die UNO schicken würde, richtig? Du mit Deiner Ironie! Es gibt Dinge, die man in der Schule tun muss, um später das entsprechende Wissen für die wirklich wichtigen Dinge zu haben!“, redet Josch auf Erik ein, doch dieser erwiderte nur gelangweilt und intolerant während er wieder ausgiebig seiner nuancierten Wahrnehmung nachging, dass Josch doch für alles in der Schule Verständnis aufbrächte und er keinen wirklich wichtigen Sinn – wie Josch es formulierte in der Errechnung einer Fischpopulation in einem Teich sehen könnte und Mathematische Techniken auch nicht zur Essenz des Leben führen würden. Aber in dieser Hinsicht waren die beiden eh verschiedener Ansichten und so wird diese Meinungsverschiedenheit auch durch Stillschweigen wieder beendet. Koray tippt fleißig die Variablen und Ziffern in das Programm ein und macht schon die ersten experimentellen Versuche, ob die Darstellung erfolgreich verläuft. Mel, die neben ihm sitzt staunt wie viel technisches Verständnis er hat und bewundert, dass er - demonstriert durch sein Engagement so viel Interesse an Computern hat. Und da sie jetzt keine Ahnung hat und Koray und sie auch befreundet sind, fragt sie ihn jetzt einfach nach Hilfe, auch wenn er bei seinen Experimenten gewiss ungern gestört wird... Solang Mel Koray kennt findet sie ihn einfach nett. Er ist türkischer Herkunft, was ja schon an seinem Namen zu erkennen ist. Das er so viel Interesse an Technik und Computern hat, kann auch an seiner Herkunft liegen, denn sein Großvater kam einst mit seiner Familie aus der Türkei nach Deutschland, da er als Arbeitskraft im Computerbereich von einer Firma in Deutschland angefordert wurde. Ihm wurde hier ein fester Job im industriellen Bereich angeboten und es wurde ihm versichert, dass er staatlich unterstützt wird. Zu dieser Zeit waren in Deutschland Gastarbeiter beliebt, die maßgeblich aus Italien aber auch aus der Türkei und anderen Ländern kamen, so wie Korays Großvater. Er hatte diesen Berufszweig gewählt, da er an der neuen Technik interessiert war. Der Landeswechsel fiel ihm und seiner Familie damals schwer, denn sie hatten sich in der Türkei eine angenehme und gesicherte Existenz bereitet. Doch da er immer produktiv sein wollte und er bei einem solch sozialisierten Staat auch Interesse an der Kultur hatte, entschloss er Gastarbeiter zu werden. Unerwartet freundlich und subventioniert wurde er und seine Familie dann auch empfangen und er konnte sich in Deutschland eine angenehme neue Heimat schaffen, auch wenn es der Familie am Anfang schwer fiel. Später arbeiteten dann noch mehr seiner Landsleute in Deutschland und er traf sogar Verwandte und Bekannte wieder. So gebar seine Frau nach zehn Jahren einen gesunden Sohn, der dann deutsch-türkisch aufwuchs, was ihn sehr fortschrittlich und gebildet macht in seiner Familie: Korays Vater So fährt Korays Familie oft noch zur Türkei, um Urlaub zu machen, doch das Leben in Deutschland ist zum Selbstverständnis geworden. Nicht nur verständlicherweise für Korays Vater, sondern sogar schon für den noch sehr konservativen Großvater Korays. Für sie ist ein Leben in einem anderen Land nicht mehr denkbar. Freudig sieht Korays Familie, dass Koray in der Schule und in Deutschland allgemein gut zurecht kommt und sogar Freunde findet. Das war nicht immer so. Seit etwa zehn Jahren kriegt die Familie den Zwang der Ausländerfeindlichkeit zu spüren und seit etwa fünf Jahren muss sich die Familie ernsthaft der Rassenfrage stellen. Aus unerklärlichen Gründen fingen die Deutschen plötzlich an Ausländer zu diskriminieren, wobei die türkischen Mitbürger am stärksten diskriminiert werden. Korays Großvater findet das seitdem er sich dieser Problematik bewusst wurde ungehörig und frech, denn er denkt, dass neben dem Aspekt, dass niemand herabgesetzt werden sollte, das die Deutschen ihm beispielsweise dankbar sein sollten, wenn man dies schon bewerten muss, denn er hat die Geburten zahlreicher Kinder ermöglicht, er hat die deutsche Wirtschaft unterstützt und seine Heimat aufgegeben. Wie kann man nur so undankbar sein?

Undankbarkeit ist den Menschen sicherlich zuzuschreiben, aber wenn die Frage nach der Undankbarkeit von einem Ausländer geäußert wird, dann sollte man nicht antworten, denn nicht jeder hat das Recht diese Frage zu stellen – wird ein Jeder sagen!

Das es Wohlstand und ein Sozialsystem gibt, dafür ist er doch verantwortlich! Besteht seine Ehre darin sich als Zecke bezeichnen zu lassen? Er ist doch niemand, der sich auf die Kosten des Staates stützt und Deutschland als Spendeland ausnutzt. Er kennt Landsleute, die dies tun, aber das kann man doch nicht kategorisieren! Mittlerweile werden die Gegenden, in denen konzentriert türkische Mitbewohner (?) leben als „Ghettos“ bezeichnet. Allen Türken wird Aggressivität zugeschrieben. Korays Vater sieht die Lage nicht unter derart konservativen Aspekten. Er kann die Deutschen verstehen, denn viele Jugendliche führen sich seiner Meinung nach ungehörig auf. Der Fehler liegt dann jedoch darin, dass die Kinder die Privilegien der türkischen Landsmänner mitbekommen und der Stolz von den „Alten“ oft falsch vermittelt wird. Dem sollte man Einheit gebieten. Allerdings stimmt er auch seinem Vater zu, dass ein Türkenhass eine Frechheit, Gemeinheit und eine menschliche Unwürde ist. Es würde ihn allerdings nicht betreffen, wenn die Familie bei all ihren Opfern nicht unter Diskriminierung leiden müsste. Aber Koray wird akzeptiert und er hat bisweilen ein unbeschwertes Leben. Darüber freut sich dann sein Großvater insbesondere. Er redet häufig mit seinem Großvater, weil er die Deutschen gerne verstehen möchte. Das Schicksal eines Gastarbeiters, dessen Leiden seiner dritten Nachfolge – Generation nahezu fremd und dem der Begriff „deutsche Nationalität“ mehr als vertraut erscheint. Das Wetter war in letzter Zeit recht stürmisch und Koray redete deswegen mit seinem Großvater nicht mehr im Garten des Hauses, sondern in der Wohnung bei einem wärmenden Tee. Der Wind wehte schon seit einiger Zeit stark und heute wendete er seine Richtung...