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Kapitel 9
1828 in Nürnberg
(vom 21.10.2003)

Zeit des Erwachens – schon wieder ein Gedanke, den Erik nicht zu verdrängen vermochte. In letzter Zeit hatte er oft derartige Eingebungen. Es verunsichert ihn. Was sollte das bedeuten? Er ist ja nun mal kein Magier, kein Visionär, kein Außerirdischer oder metaphysisch begabter Mensch. Ja, er würde sich nicht mal als intelligent einstufen. Erik ist ein Mensch, dem man einen Beobachter nennen könnte. Er setzt sich beispielsweise manchmal in die Stadt auf einer Sitzbank und beobachtete das hektische Treiben und die verschiedenen Menschen, die miteinander redeten, ihre Uhren verglichen, sich bei ihren Einkäufen koordinierten. Ja, manchmal oder besser sehr häufig sah man sogar die verschiedenen Menschen streiten: Ein Vater stritt sich mit seinem pubertierenden Sohn, ein junges Ehepaar diskutierte über Zukunftsperspektiven, selbst alte Männer, die offensichtlich schon seit Jahrzehnten befreundet waren stritten über den ausländischen Einfluss in Deutschland. Zum Teil konnte Erik bei heiklen Diskussionen zuhören: Rassenfrage, Einwanderungsgesetz, Arbeitsmöglichkeiten für Jugendliche, die Bedeutung von Freundschaft und Liebe, die Zuverlässigkeit der regierenden Koalition und, und, und. Die Menschen hielten mittlerweile offensichtlich nicht mehr viel von Privatsphäre und Intimität. Und sie hatten auch oft keine Zeit mehr dafür. Manchmal kann Erik sogar sehen, dass einige Menschen ihren Beziehungsstreit am Handy beim Einkaufen erledigten.

Dann fragte er sich oft, wie viel Wert die Menschen denn noch auf Eigenarten und Individualität legen, wie viel Zeit und Mühe sie für Beziehungen, Liebe und Mitmenschlichkeit wahrhaft investieren wollen,

wenn sie ihren Beziehungsstreit, dessen Ziel es sein sollte neue Toleranz zu entwickeln oder Verständnis und Zuneigung zum Ausdruck zu bringen um das was zwei Menschen verbindet zu festigen wie die Hausarbeiten kalt, gefühllos und mit vorgefertigten Argumenten am Telefon abhandeln, um den anderen zufrieden zu stellen. Welche Werte gehen allein mit der Intention dies am Handy beim Einkaufen bereden zu wollen verloren?

Und wie abgebrüht muss ein Mensch sein, wenn er in der Lage ist Liebe zu simulieren?

Erik beobachtet die Menschen, er kann auch nicht leugnen, dass er oft im Unterricht nicht zuhört. Das macht er niemals absichtlich, aber durch seinen natürlichen Drang ein Geschehen nuanciert wahrzunehmen bemerkt er oft den Übergang vom Zuhören zum Beobachten nicht. Gerade noch konzentrierte sich Erik darauf dem chronologischen Verlauf des Wirtschaftszusammenbruchs nach dem elften September im SoWi - Unterricht zu folgen und im nächsten Moment realisiert er, dass er schon seit fünf Minuten nicht mehr darauf achtet, was der Lehrer sagt, sondern wie er es sagt. Eine Geste des Lehrers hat diesen Übergang verursacht. Irgendetwas verbindet er damit. Jetzt wusste er es wieder. Herr Borgerding gestikuliert und mimt sich exakt so wie Jürgen von der Lippe. Seine Schlussfolgerung besagt, dass dieser bekannte Comedian offensichtlich ein Idol seines SoWi - Lehrers ist, denn man könnte ihn wahrlich als ein Double des Originals durchgehen lassen: Lippen stülpen beim Betonen und hervorheben von für ihn interessanten oder fragwürdigen Aspekten, vielfaches Anwenden von verschiedenen Tonlagen, Tragen von Hawaiihemden trotz eines Bierbauches... alles passt hervorragend zusammen. Erik beschloss nach dieser Feststellung ihn bei gegebenen Anlass mal zu fragen, ob er Jürgen von der Lippe - begeistert wäre. Erik findet diese Nachahmung sehr inspirierend, denn Herr Borgerding hat ein Idol nach dem er sich richtet.

Hier befindet sich ein echtes Stück Menschlichkeit: Menschen brauchen Idole. Menschen an denen sie sich orientieren können, die Vorbilder sind und eine Lebensart vorleben.

Erik ist davon überzeugt, dass Menschen sich eigentlich niemals aussuchen, ob sie ein Idol haben wollen oder nicht. Es ist nämlich nahezu eines seiner letzten Instinkte sich nach Leitfiguren, die ihren Vorstellung von Lebensstil entsprechen zu richten, denn ohne eine Quelle der Inspiration würde der Mensch nicht lebensfähig sein, was auch die „Kaspar-Hauser-Studie“ belegt. Ein Kind unbekannter Herkunft taucht in Nürnberg auf und in seinem Gesicht steht eine traurige, aber belehrende Geschichte über die Menschlichkeit geschrieben. Sorgengefalten schreibt und spricht das unschuldige Opfer seine grausame Geschichte. Und genau so grausam wie für ihn alles anfing endete es auch in Qualen, verursacht durch menschliche Habgier. Wenn Tote nochmals sterben. Der damals sechzehnjährige junge Mann wuchs vollkommen von der Zivilisation isoliert in einer dunklen Zelle bei Wasser und Brot auf. Kein Licht, kein Wort, kein Mensch, keine Erziehung, keine Regeln, kein Spielraum, kein Anfang und kein Ende. Als der Junge 1828 den menschlich natürlichen Drang verspürt aus seiner umsorgten Gefangenschaft zu fliehen nimmt der bekannte Schriftsteller Georg Friedrich Daumer den seelenkranken Jungen auf. Einige Jahre durfte der Junge etwas erleben, dass ihm fremd war: Menschlichkeit! Und er entwickelte sich als intelligenten, jungen Mann trotz der vernarbten Erinnerungen seiner Kindheit. Drei Messerstiche, drei Tage und der Tod setzte 1832 ein – ermordet weil Kaspar Hauser ein Nachkomme einer wohlhabenden Gräfin gewesen sein sollte und jemand anderes sein Erbe in Anspruch nehmen wollte. Noch nie war die Geschichte des Menschen fusselfrei, aber es entbehrt doch jeder Unmenschlichkeit solch eine Gräueltat zu tun. Wenn Erik dann mal gemeinsam mit Christina nach dem Unterricht mit Herrn Gussling redet, dann sagt dieser immer überzeugt und beruhigend, dass die Geschichte dafür da sei, daraus zu lernen und solange man denken kann hat sich der Mensch seines Erachtens nach auch schon zahlreiche negative Geschehnisse zu Herzen genommen. So entwickelte sich beispielsweise eine Demokratie und Staatsformen wie Monarchien, Diktaturen, Anarchien und absolutistische Herrschaften wurden von der Liste der möglichen Staatsformen verbannt und von den meisten Menschen als Unmündigkeit fördernd und ungerecht verurteilt. Das mag auch eine überzeugende Argumentation sein, aber Erik betrachtet diesen Sachverhalt nicht so trivial. Das mag im wissenschaftlichen Ansatz auch belegbar stimmen, aber er beruft sich eher auf weibliche Logik und argumentiert mit aus dem Leben erwachsene Ergebnisse: Gibt es in Deutschland wirklich eine Demokratie im Sinne seines Erfinders? Im Grunde genommen, wählt der Deutsche doch nur eine von zwei Parteien, die er wählen muss. Wahlversprechen werden zumeist nicht gehalten und das Regierungskonzept kann nicht mehr interventiv von den Bürgern, von den Wählern verändert werden. Nach Eriks Meinung ist es keine Demokratie im etymologischen Sinne, also ist es nicht von unten regiert, sondern von oben bestimmt. Erik vertritt erfahrungsgemäß die Meinung, dass die Bürger in einer Oktroyierung leben. Und zumeist kann auch niemand gegen diese Meinung argumentieren! Aber der Fall „Kaspar Hauser“ offenbart seiner Einstellung nach auch direkter, dass Menschen aus der Geschichte nicht zwingend lernen, wodurch er sich in seinem Argwohn bestätigt fühlt. Heutzutage gibt es eine offiziell anerkannte Methode der Forschung in der Biologie, die „Die Kaspar-Hauser-Versuche“ heißen. Mit dieser Methode werden Tiere, die auf Grundlagen und Ursprungsverhalten untersucht werden zweckmäßig von Geburt an isoliert gehalten und wissenschaftlich beobachtet, um das Verhalten der Tiere weder in Influenz von Umgebung noch von Artgenossen oder anderer Lebewesen zu bewerten. Also sind die Tiere ähnlich wie der damalig Junge Kaspar Hauser seelisch gehemmt und eine natürliche Entfaltung wird verhindert. Was hat man aus dem „Kaspar Hauser-Fall“ gelernt, wenn man gleichsam seelischen Mord als gesetzlich gesicherte Untersuchungsmethode und als eine Norm festsetzt? Oder beruft sich das auf das Pronomen „es“ von Tieren und der Beurteilung, dass Tiere als Objekte anzusehen sind, da sie aufgrund ihres Verhaltens angeblich minderwertiger als Menschen sind? Für Erik sind das Argumente, die unbestritten bleiben. Und für ihn war die Kaspar-Hauser-Studie ein zentraler und aussagekräftiger Aspekt der menschlichen Mentalität und nach dieser Art von Menschlichkeit würde er sich richten. Normalerweise würde Erik auch diese Erkenntnis in Frage stellen, wenn er nicht schon genug erlebt hätte, dass sich mit dieser Ansicht gleicht und jedes Mal wenn er diese Feststellung macht, dann wird er für eine gewisse Zeit nachdenklich, ja schon fast traurig. Oftmals gerät er auch in moralische oder juristische Diskussionen mit seiner Einstellung, wenn er sie dann mal zur Geltung bringt, was im Leben ja leider unvermeidbar ist. Dann beginnt er an seiner Lebenshaltung zu zweifeln, aber er beruft sich dann schließlich wieder auf den Ursprung seiner Überlegung, da er allgemein gut damit zurecht kommt. Er teilt die Welt kategorisch auf. Er klassifiziert die Menschen, obgleich er nicht alles über einen Kamm schert, aber diese Option ermöglicht ihm eine Art Selbstschutz. Bei all seinen noch so rationalen oder philosophischen Überlegungen gerät Erik dann oft ins Wanken, wenn ihn die Frage nach dem Sinn des Lebens plagt. Er bekommt oft richtig Angst: Was ist das Nichts und was ist die Zukunft? Wofür sind Existenzbedingungen notwendig? Was war zuerst da: Henne oder Ei? Woher kommen wir und wo gehen wir hin?

Es gibt keine Antworten auf diese Fragen! Aber sie sollen trotzdem bedacht sein, denn diese Fragestellungen sind wegweisend; weisen den Pfad der Tugend! Doch ohne Antworten lohnt ja eine Frage nicht und Zeit wird verschwendet für Ergebnislosigkeit...

„Handeln bedeutet die Zukunft im Blick zu haben...“ sagte einst sein Philosophielehrer. Aber was erwartet uns? Diese Frage stellte er sich heute insbesondere, denn wie oft drängten sich ihm sich in letzter Zeit Sätze, Wörter oder Wortgruppen ohne Kontext auf? Was sollte das alles bedeuten? Freiheit - Der fremde Freund - Zeit des Erwachens Seine Hoffnung ist, dass der Duden nicht noch mehr Unheil verkündende Worte für seine Eingebungen bereit halten würde. Und all diese Nachdenklichkeit, die ihn in letzter Zeit bewegte... Für ihn ist momentan die Welt im Wandel und er fragte sich, ob sich die Welt nur in seinen Augen verändern würde...