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Kapitel 11
Die andere Seite der Medaille
(vom 22.10.2003)

Roland tippt auch fleißig und versucht ordnungsbewusst die Aufgabe zu lösen. Was Koray kann, kann er schon lange. Mel, Christina, Erik, Koray und Josch mögen Roland nicht. Es ist nicht so, dass sie nicht mal probiert hätten, ihn kennen zu lernen, doch er ist ein sehr seltsamer Mensch. Mel findet, dass er zu aggressiv wirkt. Er hat auch keine saubere Weste. Nicht selten sollte man nachdem man ihn kennen gelernt hat sehen, wie er sich mit Schülern auf dem Hof handgreiflich auseinandersetzte und oft waren es nur Kavaliersdelikte. Es ging zumeist um den Euro, den sich jemand ein Tag zuvor geliehen hatte und den er jetzt nicht zurückgeben konnte, um Hausaufgaben, die jemand Roland nicht zum Abschreiben zur Verfügung stellen wollte oder einfach nur darum, dass ein Schüler ihn versehentlich anrempelte. Seine Hemmschwelle ist aber allgemein sehr gering, bewertet Erik ihn. Gewöhnliche Floskeln wie das allmorgendliche „Hallo“ erwidert er niemals, er scheint die Menschen nicht zu schätzen, was daran zu erkennen ist, dass er die Lehrer im Unterricht oft beleidigt und er ist absolut nicht hilfsbereit. Christina stört besonders, dass man mit ihm über nichts reden kann und das er oft stark über Ausländer lästert. Christina fühlte sich noch heute morgen in ihrer Beobachtung bestätigt, denn heute morgen trug er seine „Lonsdale“ – Jacke voller Stolz. Es besteht also kein Zweifel daran, dass Roland der Rechtenszene zuzuordnen war. Neonationalsozialismus – eines der unbegreiflichsten Phänomene in Eriks Augen. Wieder ein Beispiel dafür, dass nicht alle Menschen aus der Geschichte lernen. Aber das man nicht aus dem Nationalsozialismus lernt ist für Erik unfassbar. Der Nationalsozialismus an sich ist für Erik unfassbar. Das ein einziger Mensch wie Adolf Hitler in der Lage war ein ganzes Volk zu verführen. Das es das Wort „Demagoge“ im Lexikon gibt und Demagogie psycho–logisch ist. Das die Menschen einem solchen Konzept unbedacht zustimmen können und blind verführt ihrem neuen Führer bis in den Tod folgen. Das die Menschen bei der Diskriminierung und gezielten Tötung nicht - arischer Mitmenschen einfach zuschauen können, dies zum Teil bestärken und das anschließend leugnen. Bilder von abgemagerten ausländischen und jüdischen Menschen bei ihrem letzten Gang in den letzten Raum, den sie sehen werden: die Gaskammer! Es schneite, doch das was die Menschen als Schnee ansahen war in Wirklichkeit der Staub der vergasten und anschließend verbrannten nicht erwünschten Deutschen. Die Ideologie, die Juden zum Tode verurteilt und ausländische Menschen in Unwürde versklavt, weil sie nicht nach Deutschland gehörten. Erik findet dieses Thema schrecklich. Er hat sich schon ausgiebig damit beschäftigt. Er las jüngst in der Schule das Buch „Damals War Es Friedrich“ wo Hans-Peter Richter anschaulich das Schicksal eines Juden beschreibt, der bis Hitlers Wahlsieg eine heile Kindheit mit einem christlichen Freund verlebte, doch die Schatten des Nazi-Regimes lässt aus der heilen Kinderwelt ein unfassbares Dunkel entstehen, dass bis in den Wahnsinn führt. Weiterhin beschäftigte er sich im Unterricht mit dem Buch „Die Welle“, wo Morton Rhue eine erschreckende Geschichte über ein wahres Geschehnis in Amerika schreibt. Ein Lehrer versucht den Vorwürfe machenden amerikanischen Jugendlichen emotional nahe zu legen, was die Menschen zum Faschismus und dessen Verleugnung treibt, indem er einen ideologischen Lehrstil anwendet und sein Experiment „die Welle“ nennt, was wie es eigentlich abzusehen ist außer Kontrolle gerät. Lesenswerte Bücher, die dieses erschreckende Thema in jugendgerechter und leicht verständlicher Art und Weise Nahe bringt. Aber auch der Film „Schindlers Liste“ geht Erik sehr nahe und wenn er in „Nürnberg – Im Namen der Menschlichkeit“ abermals die Bilder der abgemagerten geknechteten Juden sieht, dann streicht ihm ein Schauer über den Rücken, den er sobald nicht wieder verlieren wird, obwohl er das Thema doch so gut kennt und ihn das eigentlich nicht mehr so arg berühren sollte, doch was wirklich unfassbar ist wird auch für ihn immer unfassbar bleiben. Man könnte es ihm mal wieder zum Vorwurf machen, dass er sich so intensiv mit Liedern beschäftigte, aber seine Meinung zu diesem Thema drückt am besten PUR in ihrem Lied „Leben“ aus:

„Wie nur konntest Du das tun?
Hast Du nichts dabei gefühlt?
Was nahm Dir all die Skrupel, all die Scham?

Das hast gewissenlos gehorcht
Mord befohlen, ausgeführt
Das Gas war leise, nur die Schreie laut

Die Bilder machen fassungslos
Gruben voller Leichen
Voller nicht erfüllter Hoffnungen

Du hast als Richter, Henker
ihre Zukunft geraubt
Wie kann ein Mensch zum Unmensch werden?
Das höchste Gut mit Füßen treten

Leben – mehr als nur zu überleben
Leben – das ist Ursprung und Ziel
Leben – als kleiner Teil des großen Ganzen
Lebenswert zu sein

Dass im Namen einer Politik,
Dass im Namen einer Religion
Menschenverachtung uns in Kriege führen

Und dass der Wahnsinn triumphiert
Wo ein Leben nur als Opfer dient
All das blieb uns bis jetzt erspart

Wir kennen nur die Bilder
Das genau ist unsere Chance
Wenn wir begreifen, wenn wir lernen wollen
Wie Du und ich und wir gemeinsam“


Wozu ein Mensch fähig sein kann und wie viel Sinne doch der Wahn haben kann. Die Geschichtswissenschaftler gehen heute davon aus, dass sich etwas derartiges weder in Deutschland noch in anderen Ländern noch mal entwickeln könnte, da die intensive Vergangenheitsbewältigung der letzten Jahrzehnte seit Ende des Krieges im Juni 1945, spätestens seit der Nationalsozialismus in Nürnberg vor Gericht gestellt wurde keine Wahrscheinlichkeit der Wiederkehr zulässt. Diese Ausführungen könnte Erik auch rein von der Logik unterschreiben, doch auch hier muss er den Neonationalsozialismus als Beispiel der Thesenwiderlegung heranziehen. Ein Teil der Menschen stimmen der Ideologie eines Wahnsinnigen aus angeblich politischen Gründen noch immer zu. Zwar sind meistens nur orientierungslose, von den Eltern vernachlässigte oder in der Schule ausgeschlossene Menschen Anhänger dieser Gruppierung, ähnlich wie in Sekten, aber ebensolche Verhältnisse veranlassen den Menschen zuwider der Natur zu handeln (wobei er nicht zwingend denkt, dass es zuwider der menschlichen Natur ist). Trotzdem hat ein Teil dieses Gedankenguts überlebt und mit jedem Türkenwitz wird ein Stück dieses Wahnsinns wiedergeboren. Auch in dieser Hinsicht gab es häufig eine Kontroverse zwischen ihm und seinem Geschichtslehrer Herr Gussling. Er faszinierte sich sehr für den Charakter Adolf Hitler, wobei man nicht denken soll, dass er den Nationalsozialismus befürwortet. Ganz im Gegenteil, aber er sagt, dass man Hitlers Handlungen nachvollziehen kann, wenn man sich mal seine Biografie betrachtet. Er war ein Mensch, der noch nie in seiner Familie besonders geachtet wurde. Von seiner Tante wurde er sogar regelrecht diskriminiert. So durchlebte der junge Adolf Hitler keine schöne Kindheit. Auch in der Schule wurde er eher als Versager gesehen und sein einziges Talent fand er in dem Zeichnen von Bildern, die er bei einer Kunstakademie vorlegte. Als ihn dort, angeblich ein jüdischer Akademiker abwies, was für ihn das Leben wertlos machte und es schien so als ob er niemals beachtet würde. Und dann verlor er seinen Menschenverstand, denn wenn ein Mensch eines braucht, dann ist es Achtung und Zuneigung. Ohne diesen ist er nicht lebensfähig und nicht im Stande seinen Verstand zu wahren. So verlor Hitler den seinen und versuchte mit radikalen Maßnahmen in den Mittelpunkt zu geraten, was ihm bekanntlich so gut gelang, dass es der Name auf der Welt ist, der einen am meisten aufhorchen lässt. So analysiert Herr Gussling diesen Sachverhalt! Erik kann diese Überlegungen absolut nicht nachvollziehen, denn er möchte und kann kein Verständnis für solch einen kranken Wahn aufbringen. Er mag auch nicht auf dieser Ebene denken, denn sein Innerstes weigert sich dagegen. Und es stimmt. Roland ist rechts, doch er ist sehr von dieser Einstellung überzeugt und denkt, dass die Menschen blauäugig sind, wenn sie sich auf ein multikulturelles Leben einlassen. Er redet oft mit seinem Vater über dieses Thema. Sein Vater sagt immer, dass er es entsetzlich findet, dass die Deutschen Kinder heutzutage kaum noch Jobs kriegen und das die Deutschen jeden Cent zwei mal umdrehen müssen während die ausländischen Mitbürger so stark subventioniert werden, dass sie mit unzähligen Tüten jeden Tag aus dem teuersten Supermarkt kommen können und das sie mit neuen Sportwagen durch die Straßen fahren. Nicht selten wird er auch dabei vulgär und Sätze wie „Diese ekligen Nigger fressen uns die Margarine vom Brot. Diese scheiß Türken lachen Dir überlegen ins Gesicht und schnappen Dir den Arbeitsplatz weg. Du kannst Glück haben, wenn Deine Post beim Ausliefern nicht von irgendwelchen Polaken oder Itakern angegrabscht wurde!“ Für Roland und seine Mutter sind solche Worte schon gar nicht mehr unnormal oder vulgär. Roland weigerte sich früher immer seinen Mitmenschen Vorwürfe aufgrund ihrer Nationalität zu machen, aber heute hat er verstanden: wenn sein Vater ihm kein Geld geben konnte oder wenn Mama alte Kleidung anziehen musste, dann liegt es daran, dass der Staat ihnen Geld aus dem Portemonnaie nimmt und den Ausländern gibt. „Im Grunde genommen ist das Raub, das verstehst Du doch, mein Junge?“ fragt sein Vater ihn immer wieder gerne. Aber mittlerweile hat Roland die Lehre verstanden, denn was sein Vater sagt musste ja stimmen. Er ist doch ein so intelligenter Mann, der wohl ein verhinderter Politiker ist, denn er führt so tolle und schlüssige Reden. Das Deutsche bessere Menschen sind erzählt er auch oft anschaulich in der örtlichen Kneipe mit dem Schnaps im Kopf und dem Geist im Glas. Roland musste doch nur alt genug werden, um die Erläuterungen seines Vaters zu verstehen. Das nennt man dann doch Entwicklung und das persönliche Schicksal seines Vaters berührt ihn auch sehr. Da sind ja auch die Ausländer dran schuld. Er hatte jahrelang als Beamter bei der Stadt gearbeitet, doch dann wurde er aus der Firma gemobbt. Damals war Roland erst fünf. Dann wollte er einen anderen Job ergreifen, jedoch waren seine Bewerbungen aus unerklärlichen Gründen erfolglos. Nachdem das Arbeitslosengeld finanzielle Probleme brachte und nach diesem auch die Arbeitslosenhilfe eingestellt wurde war die Familie schließlich beim Sozialamt und alles hat sich für sie geändert, denn die Lebensansprüche mussten schließlich arg gesenkt werden. Dann wurde ihm nach einem Jahr angedroht, dass die Sozialhilfe eingestellt würde, wenn er nicht einen Job machen würde, wo er zwei DM die Stunde verdient. Anschließend versprach ihm das Sozialamt das er wieder an das Arbeitsamt zwecks Jobvermittlung überwiesen wird. Sein Vater, vom Leben enttäuscht und durch Bitterkeit an den Alkohol geraten fasste er seine ganze Motivation zusammen, gab den Alltagstrott auf und arbeitete, um der Familie wieder ein besseres Leben zu ermöglichen. Dann bekam er bei seiner Anstellung als Hausmeister bei einem Kindergarten Probleme mit der führenden Angestellten. Sie kritisierte seine Arbeitshaltung und diskriminierte ihn ungehörig. Da Rolands Vater nicht klein beigab, fiel nach einem Jahr Arbeit in diesem Kindergarten das Urteil der führenden Angestellten schlecht aus und er wurde zu einem weiteren Jahr zu dieser Arbeit verdammt. Noch einmal fasste er Mut und arbeitete erniedrigend im Stadtgarten zum Müll sammeln, wo ihn die ganze Welt bemitleiden konnte. Und er will nicht wissen wie viele Beutel Müll von ausländischen Mitbürgern produziert wurden. Hier qualifizierte er sich und hernach sollte er wieder einen richtigen Job bekommen, doch trotz allem Verlangen bemühte sich das Sozialamt vergesslich, wie es ist nicht mehr um Rolands Vater, da Mitarbeiter aufgrund des Andrangs vom Sozialamt wahrscheinlich ins Einwohnermeldeamt verlagert wurden. Roland findet das Familienschicksal traurig. Er versteht sich mit seiner Familie gut, insbesondere ist sein Vater eine Bezugsperson. In der Schule hat er sich seine Gang gebildet und er verschafft sich täglich seinen Respekt. Er ist ein glückliches Kind und demnach passt er nicht in das Bild von Eriks Ausführungen. Er geht nur gegen Ausländer vor, da sie ihm später seine Existenz rauben werden. Warum er jetzt auch keine Juden mag, weiß er nicht mehr ganz genau! Aber in seiner Gruppe, mit der er sich manchmal nachmittags in einer alten Werkstatthalle trifft, redet auch stets ein sympathischer alter Mann von den Gründen, weshalb man den geldgierigen Juden nicht vertrauen sollte. Er würde ihn einfach das nächste mal fragen. Er erklärt es immer gerne noch einmal. Auf ihn ist halt immer Verlass und hier fühlt sich Roland geborgen...