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Kapitel 13
Milleniumsgate
(vom 27.10.2003)

Es ist dieser Tage ein wechselhaftes Wetter, dass den Oktoberblättern an den Bäumen seinen spätherbstlichen Glanz verleiht und das jeden Trendsetter und Modezar in die Knie zwingt. Nachdem man morgens aufstand war man davon überzeugt, dass der dicke Wollpullover, den die Oma letztes Jahr zu Weihnachten schenkte das beste Kleidungsstück ist, dass es jetzt geben konnte. Doch kam man aus der Kälte heraus und in die gut geheizte Schule, dann bekommt das Wort Akklimatisierung eine ganz eigene Bedeutung. Auch Erik ist durch diese ständigen Temperaturschwankungen, die sein Körper durchleiden musste sichtlich genervt. Das Erik heute nicht die zufrieden stellende Kleidung findet, könnte auch daran liegen, dass er sich Gedanken macht, was Mel wohl gefallen würde und was trotzdem angemessen war. Seine liebsten Kleidungsstücke war nun mal die Sommerkleidung, aber die konnte er heute bei etwas über drei Grad nun wirklich nicht anziehen. Er gibt seinen Körper recht: Entweder brütende Hitze oder eisige Kälte, aber ein Kalt-Warm-Wechsel erscheint ihm unerträglich. Mehr Alternativen gab es auch schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Es gab keine von Sonne durchfluteten Sommer mit 25 Grad und einem angenehm kühlen Wind mehr, wie Erik es einst als Kind erlebte. Der Winter zeichnete sich auch schon längst nicht mehr durch blendend weißen Schnee auf den Straßen aus, worauf die Kinder freudig lachend mit ihren Schlitten spielen könnten. Und Erik gibt auch zu, dass er natürlich nicht übel Lust hätte mal wieder Schlitten zu fahren. Und von den klassischen vier Jahreszeiten, die im jeden Kinderbuch abgebildet sind ist auch keine Spur mehr. Schon sicherlich seit sechs Jahren nicht mehr. Der Sommer war meist so heiß, dass man sich nicht auf den Asphalt setzen konnte, da man sich dabei Verbrennungen zuziehen könnte. Christina posaunte noch letzten Sommer in ihrer allseits bekannten Lautstärke schamlos rum, dass sie diesen Sommer Schweißdrüsen an und in ihrem Körper entdeckt hätte von denen sie selbst nichts wusste (und ihr Körper wohl auch nicht). Nicht umsonst war das große Nachrichtenthema des Sommers „Der Jahrhundert Sommer“. Es hatte diesmal überhaupt nicht geregnet und die großzügig angelegte Ernte zahlreicher Bauern wurde durch diesen Streich der Natur vernichtet. Dementsprechend wurden auch die Preise der Anbauerträge in den Geschäften unerschwinglich hoch angesetzt. Es wurden erstmals nahezu tropische Temperaturen in Deutschland gemessen, die alle Menschen in Aufruhe versetzten. „Das konnte doch niemand ahnen, dass es so entsetzlich heiß würde!“ war ein gern benutzter Satz. Aber da muss man den Menschen doch Recht geben. Wie kann man denn nur solche Naturkatastrophen erwarten können, wenn man sich so hervorragend um die Natur kümmert, dass diese in Einklang mit den Menschen steht? Oder ist es eventuell möglich, dass man kein Kohlenstoffdioxid in die Luft pumpen darf? Oder können Autos, die giftige Gase produzieren, das Waldsterben fördern? – Bei dieser Nützlichkeit unmöglich! Und der Treibhauseffekt ist doch ein natürlicher Prozess, oder nicht? Das hat man doch in der Schule gelernt! Oder ist der Bedarf an Holz bei den Menschen für ihre Luxusmöbel zu hoch und funktioniert der Naturfilter dadurch nicht mehr?

Fragen für die ein Krisenstab einberufen wird, um sie in maximal drei Stunden zu beantworten und dem Volk eine Moral aufzuerlegen, die trügerisch in Vergessenheit gerät!

Nostradamus war ein französischer Visionär und seine Voraussagungen wurden im Laufe der Zeit von Wissenschaftlern interpretiert. Sie gelten als wegweisend, aber keinesfalls als genau zutreffend. Wie war die Welt doch in heller Aufregung als wir das Jahrtausendtor (Millenniumgate) durchquerten und den Wechsel von 1999 auf 2000 überlebten, denn Nostradamus hatte vorausgesagt, dass das Millennium den Weltuntergang bedeuten würde. Doch das es ein Sylvester wie jedes andere war, bestätigte die Menschen in ihrem Größenwahn und enttäuschte die Wissenschaftler in ihren Interpretationen. Auch Erik, der sich natürlich mit den Nostradamus-Visionen voll interessiert beschäftigt war zuerst überrascht, dass kein Unglück folgte, doch er fand seine eigene Interpretation. Was die Menschen nicht bedachten ist, dass seit dem Millennium die Welt von innen heraus zu zerbrechen schien. Zunächst starben direkt am ersten Januar des neuen Jahrhunderts wichtige kulturelle Persönlichkeiten: In Deutschland waren es Diether Krebs, Deutschlands beliebtester Comedian und Beate Uhse, die Besitzerin und Schöpferin des beliebtesten Erotikkonzerns. Dann kam am 11.September 2001 das bedeutendste und einschneidende geschichtliche Ereignis des letzten Jahrzehnts: Die Kollabierung des World Trade Centers in New York durch ein Terrorattentat Osama Bin Ladens. Erstmals im Laufe der Geschichte wurde hier eine Grenze überschritten, die die Menschen für undenkbar hielten. Das Statussymbol New Yorks und das Handelszentrum der Welt – das World Trade Center wurde von einer Gruppe von Terroristen erbarmungslos und unerwartet zerstört. Auch hierfür benutzt nicht nur Herr Gussling den Begriff „Weltbild umwerfend“. Bis hierhin fühlte sich die Welt unverletzlich. Aber durch dieses Attentat, dass über 2000 Opfer forderte und Amerika stark verletzt zurück ließ, musste die Welt einsehen, dass selbst der Unbekannte, Unscheinbare im Schatten der Meute in der Lage ist alles umzuwerfen. Erstmals – seit langem – erwartete die Menschheit kein friedliches Weihnachten, denn die „Achse des Bösen“ überschattete das christliche Fest des Friedens. Der neue US-Präsident vernichtet in seiner ersten bedeutenden Amtshandlung als mächtigster Mann der Welt das afghanische Volk, um einen weiteren Terroranschlag auszuschließen und anschließend erklärt er alle terroristisch eingestellten arabischen Länder dieser Region als Angriffsziel der Kampftruppen. „Kampf dem Terror“ stand groß unter „George W. Bush“ wenn er im Fernsehen ein Interview gab. Kampf dem Terror mithilfe von Terror? – mögen sich die Geschichts- und Politologiewissenschaftler darüber streiten. Die Oscar-Verleihung, einer der kulturellsten Ereignisse der Welt wurde unfreiwillig zum Diskussionsort der Bushpropaganda und die Nachrichten des „frohen neuen Jahres“ begannen mit Todesmeldungen unzähliger Soldaten. 2002 – Jetzt sollte alles besser werden, aber auch dieses Jahr forderte Menschenopfer und setzte neue Maßstäbe für die Willkür des Schicksals: Die Jahrhundertflut zerstörte Museen und zahlreiche Existenzen in Deutschland, da es einfach zu viel regnete und der Wasserspiegel der Flüsse unermesslich stieg. Kaum blieb den Ansässigen Zeit, um ihr hart erarbeitetes Leben in Sicherheit zu bringen und auch die Subventionen des Staates waren lediglich irreführende Propaganda. Während Herr Schröder und Herr Stoiber im Schlamm des Schicksals mit Sandsack-Tragen um die Kandidatur des Bundeskanzlers konkurrieren und dies als Wohlwollen tarnen, zerbrechen Menschenhoffnungen. Im Neuaufbau des ostdeutschen Raumes setzt George Bush seinen Racheplan, wie man ihn bezeichnen könnte fort. „Wer nicht mit Amerika ist, ist gegen uns“ und dann der Irak-Krieg. Handlungen, die an eine grausame Vergangenheit und an eine von Amerika zerstörte Ideologie erinnern. Und auch 2002 sollte das Weihnachtsfest nicht christlich sein. Auch wenn viele Menschen über den neuen Kinofilm lachen und sich heiter weiter um ihre eigene Existenz kümmern. Und nun war 2003. Der Sommer war überstanden – bisher ungekannte Hitze ließ die Menschen wieder an ihr Existenzlimit kommen und politische Unzufriedenheit steht nicht nur beim Deutschen Volk im Vordergrund. Was würde uns 2004 erwarten? Erik weiß, dass ihn 2004 seine dreizehnte Klasse erwartet und nur das sollte ihm – wenn man seiner Mutter glauben würde – primär interessieren. Aber Erik fühlt sich seit seiner „Weltuntergangs“ - Interpretation verunsichert. Man musste sich doch ernsthaft Gedanken über irgendwelche menschlichen Eskalationen machen. „Erik, wir leben als zivilisiertes Volk. Wir sind längst keine Steinzeitmenschen mehr, die mal eben mit ihrem Knüppel zuschlagen, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlen. Wir haben uns weiterentwickelt. Das nennt man Evolution.“ beruhigt ihn seine Mutter wohlwollend – auch wenn sie immer mehr Optimismus spendete als sie sich selber eingesteht. „Außerdem solltest Du Dir jetzt Gedanken

um das Kennenlernen einer neuen Freundin machen. Das ist viel wichtiger als alles andere auf dieser Welt!“

Das war das „Hüpfende Komma“ – wie Heinz Erhardt immer zu sagen pflegt. So hat sich Erik für den Wollkragenpullover entschieden und nun freute er sich auf einen tollen Nachmittag auch wenn er beim Übertreten der Haustürschwelle noch eine Sekunde lang darüber nachdachte,

ob es wirklich eine geistige Evolution gibt oder ob wir Menschen uns in gewisser Weise nur körperlich weiterentwickeln.

Doch dieser Gedanke wird von dem freundlichem „Tschüß! Und viel Spaß!“ seiner Mutter übertönt. Jetzt fragt er sich ganz oberflächlich nur noch, was ihn erwarten wird und so läuft er nun seiner Zukunft entgegen.