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Kapitel 14
Herbstklopfen
(vom 27.10.2003)

Bis zum Wald sind es nur etwa fünfzehn Minuten und da Erik heute frohen Mutes einen Schritt schneller geht sollte er schon in zehn Minuten eintreffen. Er ist jetzt auch mit seinem Grau-blauen Wollpullover zufrieden, denn er sah nicht nur gut aus, sondern schien für diesen Tag wie gemacht zu sein. Heute ist noch ein schöner sonniger Herbsttag. Die Temperatur beschert einen zwar eine Gänsehaut, aber die wärmenden Strahlen der Sonne gleichen das ganze wieder aus. Ein Bilderbuch-Herbsttag, an dem man gleichsam seinen warmen, dampfenden Kaffee wie die erfrischende Winter ankündigende Luft genoss. Also mit dem Wetter haben Erik und Mel heute Glück. In ein paar Minuten wird Erik am Waldeingang eintreffen. Er befindet sich schon auf dem Feldweg und hat die „Zivilisation“ schon hinter sich gelassen, wie Erik immer sagt, wenn er ein unbevölkertes Stück Land betritt. Aus dem zügigen, geradlinigen Schritt wird nun ein zögernder, bewusst langsamerer Schritt. Wie sollte er Mel begrüßen? Mit einem Handschlag, mit einer Umarmung oder gar nur mit einem freundlichen Kopfnicken? Und was hatten sie sich denn zu erzählen? Er kennt sie doch gar nicht gut genug, um ein gemeinsames Thema zu finden! Im Grunde war das ganze doch eine Schnapsidee: Man findet sich sympathisch und trifft sich deswegen,

obwohl keiner vom anderen weiß, wer er eigentlich ist.

Einen Moment lang bleibt Erik stehen. Doch jetzt kann er keinen Rückzieher machen! Das ist doch nur wieder seine übertriebene Introvertiertheit. Natürlich hat Erik ein paar Fragen, die er Mel gerne stellen möchte, aber die sind alle doch viel zu persönlich und unhöflich – dafür, dass sie sich im Grunde nicht kannten. Es dauere noch zwei Minuten, dann wäre Erik hier! Mel sieht ihn schon auf dem Feldweg. Sie bemerkt seine zögerlichen Schritte, aber auch sie kann nicht leugnen, dass sie aufgeregt und unsicher ist, was auch ihr Händezittern zeigte. Hoffentlich merkt Erik nichts von ihrer Nervosität. Aber was solle schon passieren? Die beiden können sich doch gut leiden, schon seit dem ersten Blickkontakt. Sie wusste, was Erik bewegt und offensichtlich sind die beiden aneinander interessiert. Na ja, Mel ja nun mal schon länger! Aber es ist doch so schwierig ihn anzusprechen, wenn man nicht weiß, ob er über eine spekulierte Arroganz lache oder ob er eine neutrale Person wäre. Mel findet, dass Erik ein hübscher Junge ist. Seine Art wie er sich gestikuliert und mimt ist fesselnd. Er hat fast etwas von einem Fernsehshow-Moderator. Immer adrett, immer flexibel, selbst überzeugt und immer einen flotten Spruch auf den Lippen. Er ist gut in der Schule, wenn er wollte, aber auch schlecht, wenn er keine Lust hatte. Er ist ein Streber, der trotzdem noch Mensch bleibt. Ja, Mel hatte ihn schon ein paar Mal ins Auge gefasst und gelegentlich haben sie ja auch ein Wort miteinander gewechselt. Hier mal ein Scherz, dort mal ein Austesten. Es war wie wenn Hunde sich gegenseitig beschnuppern und dennoch gab es immer eine Distanz zwischen den beiden, die sie heute auflösen werde. Und jetzt ist es soweit. Das Zittern von Mels Händen ging nun in Schwitzen über. Und Erik bleibt jetzt Distanz haltend vor Mel stehen. Und ehe sich Erik versieht war er in Mels Arm. Und um keinen undankbaren Eindruck zu machen erwidert er dann auch diese herzliche Begrüßung, wodurch sein Herzrasen arg verringert wird. „Schön, dass wir uns heute treffen können! Meine Güte, ich glaube so schnell wie heute ist das Blut auch schon lange nicht mehr durch meine Adern geschossen!“ erklärt Mel Erik und ist über ihre Offenheit, die mit der Umarmung begann sehr erstaunt. Aber auch Erik ist nun schon etwas lockerer: „Ja, ja! Jetzt weiß ich jedenfalls, dass mein Herz wirklich schlagen kann!“ Eine Sekunde lang scheint die Zeit stehen zu bleiben und die beiden schauen sich verwundert an. Dann erzählt Mel, dass sie Erik gerne ihren Zufluchtsort zeigen möchte. „Deinen Zufluchtsort? Im Wald?“ fragt Erik ungläubig. „Du, ich weiß gar nicht warum, aber mein Vertrauen zu Dir ist ungemein beträchtlich, obwohl ich Dich gar nicht kennen! Ich möchte Dir gerne alles über mich erzählen. Ich mag Dich sehr, Du machst einen guten Eindruck, Erik!“ Über dieses unerwartete Vertrauen verwundert sagt Erik nur, dass sie nicht befürchten braucht, dass es in falsche Hände gelegt ist. Er würde die Geheimnisse eines anderen Menschen niemals verraten und er ist auch bereit ihr zu vertrauen. Das ist er wirklich! Solch einen Zustand hatte Erik bisher noch niemals erlebt. Nachdem er seinen Vater nicht wieder sah, fühlte er sich etwas verlassen und er war sehr enttäuscht. Nach einiger Zeit dachte er, dass er dieses Gefühl überwunden hätte. Doch dem war nicht so. Erik merkte schnell, dass er seine Transparenz den anderen Menschen gegenüber abrupt einstellte und sich konservativ und reserviert nur noch um die ihm bekannten Menschen und Dinge kümmerte: Er konnte kein Vertrauen mehr fassen und wenn er es tat, dann nur sehr stockend. So hat er zwar Josch als guten Freund, steht ihm aber noch immer skeptisch gegenüber. Alles zum Selbstschutz.

Drachenblut

– ein Wort, dass sich Erik nun aufdrängt. Bei diesem Begriff weiß er aber diesmal die Herkunft: Die Nibelungensage und die gleichnamige bekannte Novelle von Christoph Hein. Unverletzlichkeit, angeeignet durch ein Bad in Drachenblut. Nichts sollte ihn mehr verletzen. Das einzige, was Erik erschreckt ist die Darstellung der Novelle, denn eine Stelle ist verletzlich! Da wo ein Blatt beim Bad drauf lag. Die Stelle, wodurch Siegfried der Nibelungenheld getötet wurde und die Stelle, die die Berliner Ärztin Claudia in Drachenblut seelisch zerrüttete. Was würde also ihm zustoßen? Erik ist nun davon überzeugt, dass seine Schwachstelle angegriffen wird. Aber von Mel und sie schien Erik gut gesinnt. Und wieder schießt ihm durch den Kopf, dass seine Zukunft nun rosiger aussieht, denn er hat eine neue Freundin gefunden und das findet er – wie seine Mutter sagte – sehr wichtig! Und jetzt sitzen sich die beiden gegenüber in einem von Menschen verlassenen Wald. Über das Biotop sieht man die gelblichen Herbstblätter fallen, ein Schwarm Vögel scheint mit der Abreise in den warmen Süden beschäftigt zu sein und das leise, stetige Plätschern des Wassers lässt eine gewisse Magie entstehen. Und auch Mel ist heute davon überzeugt, dass sie (oder besser ihr Herz) beflügelt auf dem Weg in den warmen Süden ist...