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Kapitel 15
Neue Heimat
(vom 27.10.2003)

Zeit bedeutet eine Sekunde, eine Minute, eine Stunde, ein Tag, eine Woche, ein Monat, ein Quartal, ein Jahr, ein Jahrzehnt, ein Jahrtausend, ein Zeitalter, eine Epoche,
eine Weltgeschichte. Man macht oft eine Abwägung, welche Zeitspanne groß, welche klein, welche bedeutsam oder unbedeutsam ist- das ist wohl Ansichtssache!
Eine Sekunde- minderwertig, unscheinbar gering?
Ein Jahrzehnt – bedeutsam, Änderung bergend, lang?
Aber nur wer einen Moment der Sekunde genussvoll erleben kann, der kennt das Verhältnis zwischen Bedeutsamkeit und Zeit!
Jede Sekunde kann kostbar sein, denn verschiedene Momente sind unnachahmbar.
Ein Jahrzehnt ist im Verhältnis zur Weltgeschichte bedeutungslos, denn was sich im Jahrzehnt ändert, kann sich binnen eines Jahrtausends mehrfach zum Entgegensetzen ändern!
Man richtet sich nach der Uhrzeit in seinem Tagesablauf.
Verspätung, verfrühtes Eintreffen, verschlafen, ein Rennen gegen die Zeit . . . Raum und Zeit!
Aber die Uhrzeit ist nur eine Einheit, um Momente zu kalkulieren, ein Orientierungspunkt – jedoch nicht das, was wir unter Zeit verstehen!
Zeit ist ein unvergesslicher Moment, geteilte Freude, herzensfrohes Lachen, Glücksmomente, deprimierende Tage, Schreckensmomente, unheilbare Traurigkeit, Erfolge, gegenseitige Liebe . . . das wahre Leben.
Zeit ist kein Feind, sondern sie ist unsere Unterstützung für die Erinnerung.

Zeit kann endlos sein. . .
Zeit kann zu kurz sein . . .
Zeit kann uns prägen . . .
Zeit kann an uns vorbeiziehen . . .
Zeit . . . ein Phänomen!

So erscheint es Erik und Mel heute. Alle Fragen, die Erik für indiskret einschätzte durfte er heute bedenkenlos stellen und Mel nahm auch kein Blatt vor dem Mund. Lange ist es her, dass Erik einen Menschen so schnell vertraut hat. Wenn er nicht wüsste, dass sie sich heute das erste mal kennen lernen, dann würde er fast sagen, dass er Mel sehr gern mag! Aber Mel geht es ähnlich. Sie hat Erik sehr gern und alle Aufregung war umsonst. Lange ist es her, dass sie sich so gut mit jemanden geredet hat und

dieses schnelle gegenseitige Vertrauen ist eine Menschlichkeit, die ihr fremd ist.

Ist dies das, was man als Freundschaft versteht? Das einzige was Mel bisweilen kannte war die Kunst der menschlichen Floskeln, die Gesten, die jeder von einem erwartete und die ständige Intention der Belustigung über Dinge. Aber niemals hat sie erlebt, dass sich ein Mensch freiwillig für ihre Probleme interessiert. Sie bekam ja auch schon oft Ratschläge von Christina, aber diese waren unüberlegt und nicht durchdacht. Erik hingegen stellte schüchtern Fragen, damit er ihren Charakter kennenlernt und das ist Mel bis heute fremd. Sie haben heute Nachmittag ja auch gespaßt und im Wald der alten Kinderzeiten wegen Fangen gespielt, aber sie haben auch über persönliche Probleme und weltliche Themen gesprochen. „Soll ich Dir was sagen? So gut wie heute habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt“ meint Mel. „Niemand sollte mein Zufluchtsort kennen, damit ich auch jemanden habe, auf den ich mich verlassen kann: mich! Und nun begegne ich Dir...also, persönlich und das erste was ich zeige ist mein größtes Geheimnis! Ich weiß gar nicht, was los ist!“ führt sie fort, aber Erik kann sie beruhigen: „Mir geht es doch nicht anders.“ Jetzt sind sie kurz vor Mels Haus, wenn man es noch so bezeichnen möchte und sie würden sich gleich trennen: Es ist schon dunkel und Eriks Mutter wartet sicherlich mit dem Abendessen. „Ich weiß, dass es viel zu früh für diese Zutraulichkeit ist. Ich habe Dir ja vorhin erzählt, was mich menschenscheu machte, aber ich weiß heute, dass ich einen mir sehr wichtigen Menschen getroffen habe und ich hoffe, dass ich Dich als eine gute Freundin bezeichnen kann! ... Ich... ich hab Dich sehr gern!“ stottert Erik entschlossen und für einen Moment erkennt man den „stotternden Frosch“ wie Mel ihn noch so liebevoll heute morgen bezeichnete wiedererkennen. Mel ist überrascht, dass Erik ebenso fühlt und in dieser Emotionsflut erklärt sie, dass sie nun schnell rein müsse, da ihre Mutter warte. Sie sagt schüchtern, dass sie ihn morgen früh um kurz vor Acht an ihrem Auto erwarte, damit sie wieder zusammen zur Schule führen und gibt ihm abschließend einen Kuss auf die Wange, womit sie direkt Eriks Seele berührte. Hastig geht sie nun ins Haus, um keine Reaktion zu erzwingen. „Tschüß, Erik!“ hallt es durch die Straße und danach schließt sie behutsam die Tür. Und das Blut pumpt nun wieder rege durch Eriks Körper. Sein Herz klopft und seine Emotionen sind außer Kontrolle. Besser hätte der Tag gar nicht verlaufen können. Das sollte für Erik der schönste Tag seines „gegenwärtigen“ Lebens sein und er sollte wissen, dass es auch der schönste Tag seines zukünftigen Lebens sein sollte, denn heute hätte ein letztes mal die Sonne geschienen. Dunkle Wolken überdeckten schon heute Abend den Himmel der Stadt und ein leichter, durchdringender Nieselregen kündigt stürmisches Wetter an, dass an einen Weltuntergang erinnerte...