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Kapitel 17
Vernarbtes Erwachen
(vom 20.12.2003)

Er kann ein leichtes Rauschen wahrnehmen. Viele verschiedene Lichter ziehen in sonstiger Dunkelheit an ihm vorbei. Langsam identifiziert Koray das dumpfe Rauschen um ihn herum. In der Regelmäßigkeit des Erklingens und durch die Synchronisation der vorbeiziehenden Lichter mit dem Geräusch muss es sich um Autos handeln. Jetzt merkt Koray, dass ihm kalt ist. Ein eisiger Wind begleitet den leichten Nieselregen, der auf Korays Haut fällt. Jetzt setzt der Schmerz ein und mit ihm die grausige Erinnerung an ein Horrorszenario. Es war also kein Traum. Das ist passiert! Wie spät mag es sein? Gerade als Koray den Entschluss fast sich aufzurichten und auf seine Armbanduhr zu schauen, bemerkt er, dass es nicht geht. Die Verletzungen müssen schlimmer sein als Koray es sich vorstellen kann. Dazu kommt, dass er einen enormen Drang verspürt auf die Toilette zu gehen, doch er liegt hilflos auf der Straße. Gewaltsam zurückgedrängt durch seine Schmerzen. Er knallt auf den Boden auf und zieht sich dabei wohl auch noch eine kleine Platzwunde am Kopf zu, dem Schmerz nach zu urteilen. Im nächsten Moment wundert er sich, dass niemand ihn helfen will und ihn niemand in den letzten Stunden in ein Krankenhaus gebracht hat. Er ist doch mitten auf einer Hauptstraße soweit er sich erinnern kann. Dann erblickt er auch seine Uhr. Sie muss bei den Schlägen der Jungen abgefallen sein. Sie liegt mit einem lädierten Armband auf einer Bordsteinkante in der Nähe eines Gullis. Koray ist sich sicher, dass sie bei dem nächsten starken Windstoß in den Gulli fallen würde. Jetzt fühlte er sich benommen und das letzte was er noch wahrnahm ist die Uhrzeit, die das Ziffernblatt unter dem verregneten Sichtglas anzeigte: 11.50! „Koray! Koray, hörst Du mich?“ Jemand spricht zu ihm. Die Erinnerung kommt jetzt schnell wieder. Langsam kann er seine Augen öffnen und wahrnehmen, dass er sich nicht mehr auf der nassen, kalten Straße befindet. Und er erblickt jetzt auch statt einer verregneten kaputten Uhr am Rande ihres Daseins einen ihm wohl bekannten Menschen, der in einem beheizten Raum, der einem Krankenhauszimmer ähnelt auf ihn einredet: „Gott sei dank bist Du wieder bei mir, Schatz!“ sagt seine Mutter emphatischer als Koray es je erlebt hat und wird dann vom beleibten Körper seiner lieben Mutter nahezu erdrückt. „Autsch! Mama, ich freue mich auch, aber alles tut weh!“ „Was ist bloß passiert? Ein Unfall?“ Das könnte man so sagen geht Koray durch den Kopf und erzählt die ganze schreckliche Geschichte. Man hat schon viel von solchen handgreiflichen Auseinandersetzungen Meinungsverschiedener Jugendlicher gehört, aber dass das tatsächlich Realität ist schien Koray bis zu dieser Stunde absurd. Seiner Meinung nach gibt es keinen Grund derart aggressiv einen Mitmenschen gegenüber zu stehen und trotz aller Streitigkeiten wurden solche Dispute seiner Erfahrung nach nie mit Schläge, sondern mit Sanktionen einer erzieherischen Instanz beendet. Aber die Zeit der Petzerei schien vorbei.

Und die Zeit des Friedens ist offensichtlich auch schon immer eine Illusion gewesen. Kalter Krieg ist immerdar und grausam ist es ihn letztlich wahrnehmen zu müssen.

Aber warum sollten die Menschen um Koray herum zivilisierter sein als die Soldaten im Irak oder die Regierungsoberhäupter von diversen Weltmächten? Nichts sprach dafür und Korays Schicksal bestätigte diese Schwarzmalerei auch noch! Jetzt wird die Tür geöffnet. Ein großer, bärtiger Mann in einem langen, weißen Kittel tritt ein. Der weiße Kittel verrät, dass er Arzt in der Klinik ist. Er wirkt nicht sehr vertrauenswürdig, denn ohne den weißen Kittel hätte Koray ihn eher für einen Mafiosi als für einen Arzt gehalten, doch

man fragte ihn ja offensichtlich seit längerem nicht mehr mit welchem Menschen er in Kontakt treten möchte und mit welchen Menschen nicht.

„Keine Angst, Frau Ozungül. Ihr Sohn hat zwar schwere Verletzungen im Unterleib und im Gesicht erlitten, die Verheilen aber wieder allesamt. Das einzige Beunruhigende ist, dass ihr Sohn einige Narben zurückbehalten wird.“ Einige Narben! Koray kann sein Gefühl und seine Gedanken, die er derzeit hat nicht ansatzweise einordnen. Er merkt, dass er sehr zerstreut ist. Er weiß nicht mal, ob er glücklich darüber sein sollte, dass er diesen Angriff überlebt hat. Er weiß nicht, ob er es schön findet, dass nach fast zwölf Stunden sich offensichtlich ein Mensch doch noch an den Begriff der Nächstenliebe und der Hilfsbereitschaft entsinnen konnte und einen Notarzt rief. Er weiß auch nicht, was da passiert ist, ob es überhaupt passiert ist oder ob alles nur ein böser Traum war. Jetzt beginnt er schrecklich zu frieren. An den Körperstellen, wo Koray noch Empfindungen hat, glaubt er das sachte aber durchdringende Gefühl von nieselnden Tropfen zu bemerken. Und wieder ein Schmerz, der seinen ganzen Körper durchzieht. Doch er stammt nicht von einer seiner Wunden. Er kommt aus dem tiefsten Innern seines Körpers – die Wunden an seinem Körper mögen verheilen, aber die bald entstehende Narbe auf seiner Seele wird nie wieder verschwinden. Und wenn er vielleicht irgendwann mal wieder in der Lage ist, etwas

Normales

, etwas menschliches zu fühlen, dann wird ihn das Gefühl von ihn durchdringendem Regen und eisigem Wind einen Schauer auf den Rücken jagen...