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Kapitel 18
Der Wetterbericht
(vom 25.12.2003)

Kerzenlicht! – Schon immer hatte es eine magische Wirkung auf Mel gehabt. Sobald sie irgendwo eine Kerze aufleuchten sah umgab sie ein beruhigendes, harmonisches Gefühl von Geborgenheit. Sie empfindet den Schein der Kerze als ehrlich und rein. Sie spendet Wärme und Licht – ein Licht der Wahrheit. Eine Kerze war schon immer von den Menschen als Symbol für das Leben benutzt worden. Wenn sich ein Unglück ereignete, dann hatten es sich einige Menschen zueigen gemacht eine Kerze anzuzünden, zumeist verbunden mit einer Schweigeminute. So wurde weltweit zum elften September Kerzen angezündet, um den Opfern des World Trade Centers eine angemessene Kondolenz zu erweisen. Auch bei dem tragischen Unglück der New Yorker Feuerwehrmänner gab es in einigen Städten einen Trauermarsch, wo jeder eine Kerze in den Händen hielt, um seine Trauer und sein Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. In solchen Momenten ist sich Erik manchmal unschlüssig, ob es lediglich affektierte Gesten oder ehrliche Trauer ist. Doch das Leben gibt ihm leider öfter schneller eine Antwort als er es sich nur wünschen kann. Denn kurz darauf initiierte George Bush den Angriff auf Afghanistan, wodurch nicht nur glücklicherweise das Volk von der Diktatur erlöst wurde, sondern auch zahlreiche Zivilopfer zugrunde gingen. Aber solange Erik auch darauf wartete, es wurden keine Schweigeminuten veranstaltet oder irgendwelche Kerzen in Andacht an die Opfer des Afghanistan-Angriffes angezündet. Die Bundesregierung kümmerte sich im Gegensatz zu den WTC- Opfern nicht ansatzweise um die Opfer aus Afghanistan. Und so wurde ihm klar, dass das Opfer der Großmacht gern bemitleidet wird und der arabische Ölfürst in Amerika heiß umschwärmt , aber sein Landsmann auf der Flucht weniger beliebt ist. Heuchelei – ein kontroverser, angreifender Begriff. Doch Erik musste schon oft erkennen, dass dieser Begriff leider oft gegenwärtig ist. Heuchlerische, trügerische Ehrlichkeit – wieder eine Simulation der Menschlichkeit.

Da muss man sich schon fragen, ob es diese Werte,

die Erik stets hofft doch noch mal gerechtfertigt erwarten zu können wirklich mal gegeben hat oder

ob es bloße Erfindung aus einem phantasievollen, hoffnungslosen Träumergeist wie dem Seinen ist. Aber diese Frage von einer eventuellen Menschlichkeit in einem Land vor seiner Zeit ist irrelevant und bleibt – wie so vieles – ungefragt.

Mel selbst hatte einst eine Kerze angezündet als ihre Großmutter gestorben ist, die sie sehr geliebt hat. Die Flamme der Kerze schien solange andächtig bis sie aufgebraucht war. In dieser Zeit vergoss Mel die angemessene Anzahl an Tränen, trauerte um die Abwesenheit ihrer Oma und fasste neuen Lebensmut. Als die Kerze runtergebrannt war, hatte Mel den Anschein gehabt, dass bereits Stunden, Tage oder sogar Jahre vergangen seien. Sie hat in den ein ein halb Stunden über ihr ganzes Leben sinniert und alle Momente noch einmal mit ihrer Oma erlebt. Ja, sie hat sogar das Gefühl gehabt, ihre Oma hätte zu ihr gesprochen und ihr Mut zum Weiterleben, zum „Drüber - hinwegkommen“ gemacht.

Manchmal steckt in den unscheinbarsten Dingen Magie

– so wie Mel Magie in ihrem Licht der Wahrheit findet. Manchmal muss man sich seine Lebenserfahrungen schmerzhaft aneignen und manchmal serviert es Dir das Leben wie auf einem silbernen Tablett. Zumeist ist es heute leider so, dass sie Dir serviert werden, wenn man nur die Augen für das Essentielle öffnet – so kommt es Erik jedenfalls oft genug vor. Essentiell – Essenz. Worte, die Erik vermied in der Schule zu benutzen, denn sein Freund Josch – der ja, wie schon gesagt, recht gescheit, jedoch sehr unerfahren und oberflächlich denkend ist – macht sich über den häufigen Gebrauch dieser „Fremdwörter“, wie er sie in einer beispielgebenden Aufzählung neben „fokussieren“ und „Analogie“ begreiflich darlegend bezeichnet lustig macht und ihn damit gerne hochnimmt. Vielleicht ist er auch durch diese präzise und bezeichnende Wortwahl entsetzt, da sie nicht in seine – nicht in diese Welt passen. Präzision und Eigenartigkeit in der Wortwahl zeugen von Charakterpräsens und Individualität, die auch durchaus in der Lage dazu wäre sich einer unbegründeten Auferlegung zu widersetzen oder unterschwellige, indirekte Suggestionen aufgrund von ausgeprägter Intelligenz wahrzunehmen.

Diese „Eigenart“ passt

– so wie Erik unsere Gesellschaft abschätzt - genauso wenig in unser alltägliches Dasein wie die Essenz oder einem Suchen nach Essentialität. Aber derartige Gedanken sollte man wohl besser nicht laut äußern, da einige Fragen besser ungefragt bleiben sollten, so wie einige Quintessenzen besser niemals gezogen werden sollten.

Heute sollte offenbar wieder so ein Tag sein, wo Erik eine Lebenserfahrung serviert bekommt. Eine Dienstleistung für die Erik kein Trinkgeld zahlen möchte – zumindest solange nicht bis er weiß wer der Kellner ist. „Er liegt seit sieben Tagen im Krankenhaus und ist erst gestern aus dem Koma erwacht. Irgendein Gewaltakt von schwerwiegender Natur muss sich ereignet haben; das belegt die Art der Verletzungen, doch bis jetzt hat Koray noch nicht erzählt was passiert ist...“ Erik liebt es ja sich hochragend zu formulieren und das Äußern mit einer präzisen Sachlichkeit empfindet er als angenehm und ist ein Teil seines Daseins als hoffnungsloser Rationalist, doch heute kommt ihm die wohlüberlegte Formulierung seiner Englischlehrerin so sachlich vor, dass es einem Wetterbericht gleicht und ihm somit verräterisch vorkommt. Koray wurde wahrscheinlich gewaltsam zusammengeschlagen, er lag sechs Tage im Koma und kann nicht zur Schule kommen und sie redet von diesem Verbrechen als ob sie sagen wollte „Wolkig, abwechselnd regnerisch und Hoch Berta sorgt für Wirbel“. Noch vor einer Woche hat er sich mit Koray in einem alltäglichen Gespräch über den Vorteil einer ergonomischen Computertastatur unterhalten – gleichgültige Wahrnehmung, weil er dieses Gespräch jeden Tag wiederholen könnte – und jetzt ist Koray fast ums Leben gekommen. Und kaum einer scheint es wahr zunehmen. Michael verschränkt seinen Kopf gerade genauso gleichgültig in seine Arme, weil er einen anstrengenden Unterricht zu erwarten hat wie sonst auch – nicht beeindruckt. Daniela, Carolin und Antje gackern genauso schrill und laut wie sie es immer tun und diskriminieren schweigend Schüler – kaum geschockt. Drei weitere Faulpelze von der hinteren Bank nutzen diese „günstige Gelegenheit“, dieses „dumme Vorgeplänkel“ um noch schnell die Englischhausaufgaben von Moni abzuschreiben – wahrscheinlich haben sie die schreckliche Nachricht gar nicht wahrgenommen. Dann fühlt sich Erik immer als ob er nur von Irren umgeben wäre und er fragt sich wie viel Menschlichkeit denn noch in deren Seelen haust. Er weiß, dass er den heutigen Tag und diese seltsame Erfahrung so schnell nicht vergessen wird. Er fragt sich nur, was ihm diese Erfahrung beibringen sollte, was er nicht sowieso schon wüsste. Und als Quintessenz seiner Überlegung bleibt nur: Man muss eben die Zeichen der Zeit erkennen.