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Kapitel 19
Der Neid des Weihnachtsmannes
(vom 25.12.2003)

Riesig – mindestens 50 Meter lang. Das Licht dieser Girlande sollte wohl notfalls die gesamte Stadt und den angrenzenden Stadtteil beleuchten können. So erhaben umschlang die grüne – wohl aus dem Paradies entschwundene Schlange die 1200 m² des Nazarski – Anwesens. Und wenn das Licht nicht ausreichte, dann könnte zumindest der nachfolgende gigantische Weihnachtsmann, der die Büsche des Villengartens ziert den Ungläubigen, die das Weihnachtsfest nicht angemessen würdigen heimleuchten. Ja, Frau Nazarski stand zu ihrem Hang zum Kitsch. Das soll man auch als charakterstark auslegen und das würde wohl auch ein Jeder tun, wenn man nicht unlängst erkannt hätte, dass der Hang zum Kitsch genauso eine Fassade ist wie Frau Nazarskis aufdringliches Parfum. Es soll nur Schokoladenseiten geben und unschöne Stellen werden geschickt mit ihrem 2500 Euro – Schminkset vertuscht. Sie ist der Star der Nazarski - Show und der Scheinwerfer soll ihr Antlitz stets erleuchten, denn sie hat schließlich nichts zu verdecken. Zugegeben: Mel klaute diese Formulierung aus dem Film „About A Boy“ nach dem gleichnamigen Buch von Nick Hornby, aber das schien auch passend. Fakt ist jedenfalls, dass ihre Mutter immer ein riesiges Aufsehen um die Vorbereitungen der Vorweihnachtszeit machte und das Haus schließlich durch seine auffällige Dekoration– von innen und außen – eine dermaßen weihnachtliche Atmosphäre schuf, dass der Weihnachtsmann und sein gesamtes Gefolge neidisch wäre. Nur mit einem Sack voller Geschenke und mit einem freundlichen Lachen kann sich Mel ihre Mutter nicht vorstellen – und sie versucht es jedes Jahr. Das Haus kommt Mel jedes Jahr ganz verändert vor. Der Zeit angemessen. So wie alles immer entsprechend und angemessen war – adäquat und konform und durch eine gewisse Übertriebenheit doch individuell – so wollte Frau Nazarski gesehen werden. So wie das „Stern TV“- Logo weihnachtlich verziert war und der Schnee davor als prägnantes Emblem rieselte, wenn Weihnachten war, sah auch das Emblem, die Etikette ihrer Mutter zu dieser Zeit aus. Wie auf einer Showbühne. Ja – das ist genau das Bild, dass Mel von ihrer Mutter hat. Sie lebt in einer Show. Ihr Leben ist Show und passt offensichtlich optimal in die Gesellschaft, denn sowohl beruflich als auch privat, was bei Frau Nazarski in Mels Augen kaum einen Unterschied macht ist sie damit erfolgreich. Wenn sie Stress hatte, legt Frau Nazarski auch am liebsten den Queen-Song „The Show Must Go On“ auf, was eine von ihren meist zitierten Sätzen in Krisenzeiten ist. Diese Einstellung zeugt nicht wirklich von Moralität und entstammt auch nicht wirklich einem natürlichen Optimismus, sondern er ist eine vor dem Spiegel antrainierte Floskel, die geäußert wird, wenn es angemessen ist und deshalb war Frau Nazarski auch in ihrem bisherigen Leben noch nie in der Lage ihrer Tochter zu helfen, indem Sie ihr simpel versucht Trost zu spenden, denn sie kann es nicht. Jetzt könnte man sagen, dass es nichts einfacheres als das gibt, denn dafür braucht man oft nicht mehr als seinen Mund aufzumachen, aber Frau Nazarski besitzt diese Fähigkeit nicht, da sie nichts anderes kennt als ihre Routine, ihr Rahmen, indem sie sich sorgfältig bewegt. „Früher war es nie ein Problem für mich. Und wenn ich nicht dieses störende Talent hätte alles zu durchblicken – womit ich mich wirklich nicht selbst loben möchte – dann wäre es wahrscheinlich noch heute kein Problem für mich...“ Eine Träne steht auf Mels Gesicht und ihre Stimme zittert. Nicht vor Aufregung oder aus der Scheu heraus Erik Dinge zu erzählen, die bei ihm in den falschen Händen sein könnten, sondern weil sie diesem Schicksal nicht gerne ins Gesicht sieht. Da macht sie dann auch gerne Show – wie ihre Mutter; das hilft ihr. Erik sitzt ruhig vor ihr und lauscht aufmerksam; mitfühlend. Es ist kalt im Wald und auf dem Baumstamm sitzend bekommt er einen kalten Hintern, doch jetzt vergisst er diese „Nebensächlichkeit“ und konzentriert sich voll auf Mels Worte. „Seitdem ich zwölf bin, fühle ich mich allein“ – schnief – „Niemand ist da, der mir tröstend die Hand hält, wenn ich Kummer wegen der Schule hatte. Höchstens ein gekünsteltes ‚The Show Must Go On’, was mich höchstens noch deprimierter machte. Meine ganze Pubertät ohne Ansprechpartner und meine Freunde waren auch nur irgendwelche Mitläufer. Denen konnte ich mich nicht anvertrauen. Niemand teilte meinen Zorn, wenn ich einen Wutanfall hatte. Und auch Alltägliches des Jugendlichenlebens beunruhigte mich. Oder meinst Du mir hat jemand mal eher gesagt, dass es ganz normal ist das Mädchen mit dreizehn die Brüste wachsen...oh jetzt habe ich für einen Moment... - “ Erik wird zwar jetzt leicht rot, aber winkt ab: „Was hast Du? Ich höre Dir zu. Also, ich weiß vom Unterschied zwischen Jungen und Mädchen und ... na ja... ich kann das verstehen, also rede... rede ruhig weiter...“ Noch ein flüchtiger misstrauischer Blick lang ist es Todsterbens ruhig um die beiden und bald darauf brechen sie in ein lautes Gelächter aus, dass die Vögel spätestens jetzt in den Süden treiben würde, wenn sie nicht schon losgeflogen wären. In diesem Winter sollte sich Erik noch oft mit Mel über die intimsten Dinge unterhalten – was den Rahmen des „Unterschiedes zwischen Jungen und Mädchen“ oft sprengte. Als der Schnee kam, der leider nie mehr liegen bleibt mussten sie ihren Zufluchtsort verlassen und sich in Cafés oder auch mal bei sich zu Hause treffen. Am Anfang reichte die „kleine Höhle“ noch aus – wie Mel sie bezeichnete. Es war zwar nur ein etwas größeres Erdloch, dass vertikal aus der Erde am Zufluchtsort rausragte, doch es war eigentlich schon lange zu kalt, um sich im Wald zu treffen. Spätestens zehn Tage nach Nikolaus beschlossen die beiden Waldanhänger keine Opfer der Kälte zu werden. Am Anfang trafen sich die beiden immer nur bei Mel, da sie dort ungestört reden konnten und Erik sich eh sehr für das große Haus begeisterte, doch später – als Mels Mutter Urlaub hatte und ihr mit ihrer Anwesenheit schon oft genug auf die Nerven ging, kam Mel fast nur noch mit zu Erik, was für ihre Begriffe noch früh genug war. Das erste Mal als Mel die bescheidenen Verhältnisse aus Eriks Leben kennen lernte kam sie aus dem Staunen nicht mehr raus. Erik dachte bereits, dass seine Mutter lediglich den Eindruck eines sprachlosen, staunenden Mädchens bekommt und sie ihren Charakter nicht kennen lernen konnte für den Erik mittlerweile mindestens einmal am Tag ausgiebig schwärmte. Doch dann fiel das Wort, dass Mel aus ihre angeborene und forsche Neugier aus ihrem Staunen riss: „Ach, das ist also Deine Mel!“ Präzise, individualistisch, sachlich und essentiell – eigentlich eine Formulierungsart, die Erik gefällt, aber dort führte sie eher zu einer gesunden Gesichtsfarbe. „Was? Deine Mel???? Ich bin wohl hier so was wie berühmt, was?“ Die Sticheleien setzten sich noch den ganzen Abend fort. Mel und Eriks Mutter verstanden sich prächtig. So prächtig, dass sie noch lange Erik mit ihren Sticheleien ärgern konnten. Doch in Mel selbst ging den Abend viel vor, was sie auch erst jetzt realisiert. Es ist mittlerweile der 22.Dezember und nicht nur ihre Mutter hat Urlaub und liegt ihr schon seit geraumer Zeit in den Ohren sie solle ihr technisches Equipment mal dazu nutzen, um anständige Einladungen zu gestalten und rauszuschicken, damit wieder ein tolles Familienfest veranstaltet werden konnte, sondern auch sie hat Ferien und denkt viel über sich nach. Zum Beispiel über ihr Staunen bei Erik. Sie staunte, da dieses Beisammensein und diese Wohnung eine derart harmonische und weihnachtliche Atmosphäre vermittelt, wie es ihre Mutter und der Weihnachtsmann in Kooperation wahrscheinlich nicht demonstrieren könnten. Nicht wegen der Deko, sondern weil man die Harmonie und die Liebe in der Luft förmlich spüren konnte. Und eigentlich ist Mel auch froh darüber, dass sie als Eriks Mel bezeichnet wurde. Die Sticheleien waren nur dazu da um darüber nicht nachdenken zu müssen. Noch nie hat sich Mel so jemandem anvertraut. Nie hörte ihr jemand so zu. Niemanden, den sie kennt, versteht sie so gut wie Erik und nichts würde diese innige Freundschaft wie sie in den letzten Wochen seit dem Herbstklopfen entstand auseinanderreißen können. Und das Herbstklopfen kommt dieser Tage wieder. Und da Mel weiß, dass es im Winter kein Herbstklopfen geben kann und sie auch nicht nur um die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen weiß sondern auch um deren Gemeinsamkeiten, weiß sie dass sie früher oder später realisieren muss, was passiert ist. Sie hat sich in Erik verliebt. Sie könnte sich zwar weiter mit ihm treffen und sich nichts anmerken lassen, doch irgendwann wird er ihren anhimmelnden Blick eh bemerken und wer weiß... Doch nicht nur dieser Gemütszustand beglückt sie derzeit, sondern auch der Gedanke, dass sie bald nicht nur eine Kerze anzünden kann, sondern vier. Die Adventszeit war da und bald war Heiligabend. Im Kerzenschein schimmert das Fest der Liebe in der Menschen Gesichter und das erste Mal in ihrem Leben schenkt sie wirklich von Herzen, denn sie glaubt dieses Jahr an die Liebe und sie wird sich zu Sylvester wünschen, dass dieses Kind in ihrer Seele niemals mehr ersticken muss. Ein Streichholz entflammt und der Docht beginnt zu brennen sobald die dünne Wachsschicht geschmolzen ist – Kerzenlicht!