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Kapitel 20
Ein Weihnachtslied
(vom 26.12.2003)

Kleine Kristalle, die lautlos auf die Erde fallen. Graue Nebelschwaden in der Dunkelheit. Idylle inmitten von nasser Kälte. Eigentlich liebt Christina die Weihnachtszeit. Früher empfand sie diese Zeit als eine Zeit voller Magie und Freude, voller Harmonie und Glück. Es gab für sie nie etwas schöneres als die Weihnachtszeit. Das beruhigende Licht der Kerze und... da gab es einst eine Zeit, da hat man sich gegenseitig innig in die Arme genommen und sich geliebt. Es wurden Geschenke unter dem Weihnachtsbaum gelegt, die nicht immer teuer oder besonders wertvoll waren, die aber stets eine persönliche Widmung waren. Christina hatte als Kind ja nie viel Geld und so musste sie immer stark nachdenken, was sie Ihren Eltern schenken könnte. Manchmal hat sie das ganze Jahr über immer mal ein paar Mark pro Woche von ihrem Taschengeld gespart, um ihren Papa das gewünschte Rasierwasser zu schenken. Manchmal hat sie auch ihre letzten zwölf Mark von ihrem Taschengeld ausgegeben, um ihren Vater das von ihm bewunderte Bild auf dem Weihnachtsmarkt, den sie oft gemeinsam Arm in Arm glücklich besuchten zu kaufen. Und wenn sie dann doch manchmal das meiste Geld für Bonbons und Kaugummis ausgab, so hatte sie sich oft an Gespräche zwischen sie und ihrem Vater erinnert, um eine schöne Karte zu malen oder einen Gutschein zu gestalten. Wenn Christina so zurückdenkt, dann fällt ihr auf, dass sie sich hauptsächlich darüber Gedanken machte, wie sie ihren Vater glücklich machen konnte. Und wenn jemand schimpfte, dann taten die Vorwürfe ihres Vaters am meisten weh und sie gaben ihr auch gleichzeitig die erforderliche Motivation was an ihrem Verhalten zu ändern. Wenn jemand Probleme hatte, dann konnte sie die ihres Vaters am meisten nachvollziehen. Sie hatte einst viel mit ihm gemeinsam. Mit ihm teilte sie alle ihre Gedanken, ausnahmslos. Und niemand sollte ihr jemals wieder ein so guter Freund sein wie er. Wäre sie nicht seine Tochter gewesen, dann hätte sie ihn wohl geheiratet. Natürlich liebte sie auch ihre Mutter und andere Familienmitglieder sehr, doch wenn sie an Weihnachten am Fenster steht, über das vergangene Jahr und zumeist dann auch über das vergangene und das bevorstehende Leben nachdenkt während sie die Schneeflocken vom weißen fast taghellen Nachthimmel fallen sieht – so wie heute Abend – dann muss sie am meisten an ihren Vater denken. Auf der Fensterbank unter ihr hat sich eine kleine Pfütze gebildet – Christina weint. Alles in ihr wird gerade aufgewühlt. „Hey Schatz! Was ist los? Was machst Du da?“ Ihre Mutter kommt gerade zur Tür rein und hört Christina schniefen. Jetzt nimmt sie sie in ihren Arm und streichelt behutsam über ihre Schulter, wie sie es immer getan hat. Solange Tina zurückdenken kann, wenn sie Sorgen hatte. Etwas, dass sich in all den Jahren nicht geändert hat und sich hoffentlich auch niemals ändern wird. „Es ist nicht alles so verlaufen, wie wir uns das vorgestellt haben, oder? Aber ich bin bei Dir! Und Du hast gute Freunde. Mel zum Beispiel. Und ich bin mir sicher, dass Dein Vater Dich auch liebt, sonst wäre er nicht so geworden wie er geworden ist. Aber was erzähl ich Dir das. Du weißt es doch am Besten!“ Alles was Tinas Mutter sagte, brauchte sie wirklich nicht zu sagen. Tina findet es nicht wichtig. Ihr ist gerade nur wichtig, dass jemand da ist, der ihr die

Hand hält und mit ihr spricht.

Ihr Herz würde jetzt auch nicht aufhören zu bluten, denn

Narben kann man nicht verwischen, aber man kann helfen zu vergessen.

„Mama, ich sage es Dir nicht oft, weil... na weil ich nun mal...Du weißt schon. So bin ich halt! Aber ich bin froh, dass Du immer für mich da bist und so. Ich hab Dich sehr lieb...!“ Tinas Mutter weiß, dass sie das nicht oft hört, da Christina sich sonst hinter einem Schutzschild versteckt und mit ihrer extrovertierten, teils übertriebenen Art all das überspielt, was sie sonst fortwährend plagen würde. Jetzt gibt sie ihr einen Kuss auf die Stirn, umarmt sie innig und bittet sie gleich zum Abendessen zu kommen. „Freu Dich doch ein wenig. Übermorgen ist Heiligabend und dann machen wir wieder ein tolles Weihnachtsessen und sie zeigen im Fernsehen doch den schönen Film, den Du so gerne siehst... ähh ‚A Christmas Carol – Die drei Weihnachtsgeister’.“ – Mit diesen Worten hastet ihre Mutter zurück in die Küche. Diese Geschichte mag Christina gerne. Sie hat die Geschichte auch schon als Buch von Charles Dickens gelesen. Sie mag diese Geschichte wahrscheinlich so sehr, da sie nicht nur ein Appell an die Werte des Weihnachtsfestes und somit ein Appell an die Werte der Menschlichkeit ist, sondern auch weil sie sich sehr mit Ebeneezer Scrooge identifizieren kann. Ein alter verbitterter Mann, der über den Tod seiner geliebten Frau nie hinweg kam und sich dann in das Geschäft des Konsums und des Geldes stürzte, um in all seinem Geiz, das menschlichste aller Gefühle zu vergessen: Die Liebe. Nachdem sein Geschäftspartner Marley sieben Jahre lang tot ist besuchen ihn drei Weihnachtsgeister, die ihn die Wichtigkeit des Weihnachtsfestes nahe bringen. Eine schöne Geschichte, wenn auch unrealistisch, denn es gibt keine höheren Wesen, die einen neuen Lebensmut oder irgendetwas in diesem Sinne vermitteln könnten, woraufhin sich die Menschen dieser Welt ändern würden. „Frohe Weihnachten“ – darauf antwortete Geizhals Scrooge oft mit dem Ausdruck „Humbug!“. Recht hat er – denkt sich Tina. Das ganze Jahr über muss man mit ansehen, wie sich die Menschen hier und dort gegenseitig verletzen, indem sie sich gegenseitig diskriminieren und konkurrieren. In anderen Ländern haben die christlichsten aller Völker nichts anderes im Sinn als das Feuer des Krieges zu schüren und nur noch emphatisch auf gewalttätige Siege zu reagieren. Konsum und Egozentrik sind die höchsten Werte der Menschen geworden. Doch einmal im Jahr haben die Menschen ja auch die Möglichkeit zu beweisen, dass sie Menschen sind und dies nicht ihre höchsten Werte sind.

Einmal können sie im Beichtstuhl der Kirche heuchlerisch Buße tun und dann veranstalten die Fernsehsender dieser Welt Spendenmarathons für alle Sünden der Menschen.

„SOS Kinderdorf“, Spenden für Tiere, „Brot für die Welt“ und vieles mehr. Einfach den Telefonhörer in die Hand nehmen und möglichst viel Geld auf ein Konto für die Nöte dieser Welt überweisen. Telefonieren und Geld transferieren – Eigenschaften, die die Menschen beherrschen und sich deshalb ohne Probleme ihre Hände einmal im Jahr in Unschuld waschen können. Wie gut, dass wir uns weiterentwickelt haben und mit Geld bei der katholischen Kirche kein „Ticket der Unschuld“ mehr kaufen kann. Erst mal auf dem Konto angekommen, kommen auch sicherlich 25 % der gesammelten Gelder in die Hände der Kinder in den Dritte Welt Ländern – so oder so ähnlich läuft es doch heutzutage. Christina hat diese Art satt. Und dann gibt es ja glücklicherweise ein Fest, dass sich Fest der Liebe und der Menschlichkeit nennt. Das heißt, dass in meinem ach so vollen Terminplaner ja immer drei Tage für die Menschlichkeit reserviert und rot angestrichen sind. Das ist ja wohl genug für diese Welt – so betrachtet Christina heute das Weihnachtsfest. Und so sehr sie sich auch anstrengt wieder die so ersehnte Harmonie und Seeligkeit zu erblicken, schafft sie es heute einfach nicht mehr. Denn der graue Nebel, der den Hintergrund der Winterlandschaft bildet ist auch schon seit vielen Jahren kein einfacher Dunst mehr, sondern Abgase der Autos dieser Herren der zivilisierten Welt. Und wie im Terminplaner festgehalten wandelt sich auch die Freundlichkeit der Menschen. Plötzlich achtet man bei den hektischen Weihnachtseinkäufen auch mal darauf nicht rücksichtslos jemanden umzurennen. Der Brauch des Schenkens wird als angenehm angesehen. Man hat plötzlich Zeit sich über die Kriege dieser Welt zu solch einer schönen Zeit zu beklagen. Das schlimme an alledem ist, dass sich Christina selbst dem nicht entziehen kann, denn sie muss es an ihren eigenen Bekannten beobachten. Neulich noch als sie Herbert mit zum Einkaufen nahm, da sie auch noch Einkäufe zu machen hatte, da trafen sie Frau Nazarski, Mels Mutter. Frau Nazarski unterhielt sich eine Weile mit Herbert. Die scheinen sich recht gut zu verstehen, obwohl schon eine große Kluft zwischen der reichen, betagten Villenbesitzerin und dem verhältnismäßig jungen, mittelständischen Säufer gibt. Doch sie haben eine Meinung. Oft musste Christina mit anhören wie sie und ihr Vater über die Obdachlosen oder - wie ihr Vater sie auch bezeichnet – Penner redeten. Es seien doch alles faule Schmarotzer, die nicht in der Lage sind eine entsprechende Grundhaltungen anzunehmen. Die dauernde Belästigung auf der Straße – wo eine simple Präsens für Frau Nazarski ausreichte – sei ja nicht auszuhalten. Sie säßen dem Staat auf der Tasche, weil sie zu feige seien sich dem Leben zu stellen. Alles verpackt in eine Redeweise, die der der Floskeln ähnelt galt das als allgemein gültiger Meinungsaustausch über eine realistische Sichtweise. Tina kann einfach nicht verstehen, was aus ihrem Vater geworden ist. Sie kann ihn mit solchen Ansichten nicht mehr ernst nehmen. Ein armseliger Säufer, dessen Geist im Glas ist mit der Liebe eines Eiszapfens. Tina verachtet ihren Vater heute und empfindet gewissermaßen Hass. Vielleicht nicht Hass auf ihn, vielleicht Hass auf das, was das Leben aus ihm gemacht hat. Doch früher hätte er nie so dumm daher geredet! Und so weit sollte es mit einem Menschen auch nicht kommen. Diese Art bei bekannten Menschen zu beobachten, setzte Tina schon genug zu, aber das Verhalten von ihnen in der Weihnachtszeit zu sehen macht sie letztendlich ganz fertig: Da sitzt einer dieser „Subjekte“ auf der Straße. Mit einer Decke und einem Schälchen in einer Gasse, indem der meiste Publikumsverkehr herrscht. Neben ihm sein Hund, den er trotz seiner Armut immer mitnimmt und somit wohl sein ein und alles ist. Herbert und Frau Nazarski bleiben erbarmend vor dem Mann stehen, legen ihm großzügige 20 Euro in seinen Korb, wünschen ihm frohe Weihnachten und beklagen sich in der typischen Redeweise der Floskeln lautstark darüber, dass man sein so vielseitig ausgegebenes Geld nicht auch mal Menschen in Armut spenden könnte, da alles andere ja unnötiger Geiz wäre. Nicht schlimm genug, dass in ihnen eine heuchlerische Moral lebt und sie diese dann auch noch genauso propagieren wie sonstige Einstellungen. Schlimmer ist es, dass dieser Obdachlose mit dieser heuchlerischen Moral und diesem Irrsinn der Menschen rechnete und sich deswegen hier zu dieser Zeit hinsetzte. Und wieder: Wie viel Sinne hat der Wahn? Das Weihnachtsfest ist schon lange nicht mehr das, was es einst sein sollte. Und

der Wahn der Menschen beginnt vor unserer Tür und wenn wir nicht aufpassen, dann beginnt er in uns selbst. Denn so wie das Gute in des Menschen Hülle haust, haust auch das Böse dort. Und je mehr diese Eigenschaft und diese Erkenntnis unterdrückt wird, desto intensiver setzt sie sich durch.

Ein natürlicher Kreislauf – der Mensch in seiner natürlichen Form. Doch auch der „Penner“ stellt diese Frage nicht mehr. Ebeneezer Scrooge ist die Darstellung eines Menschen in der Weihnachtszeit wie er heute existiert. Eine schreckliche Vorahnung Charles Dickens. Ein moralisches Märchen mit Empfänger. Doch der Umschlag, indem dieser Teil der Menschlichkeit steckt – Der Sinn des Weihnachtsfestes – hat einen aufgedruckten Stempel: Empfänger ist unbekannt verzogen...