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Kapitel 22
Ein ganz normaler Tag
(vom 02.02.2004)

„Ich geh mit Dir wohin Du willst. Auch bis ans Ende dieser Welt. Am Meer, am Strand, wo Sonne scheint will ich mit Dir alleine sein. Denn so wie es ist und so wie Du bist, bin ich immer wieder für Dich da. Ich lass Dich nie mehr alleine! Das ist Dir hoffentlich klar!?“

-„Was ist mit diesem Kind heute los?“ fragt sich schon Frau Nazarski bei der auffälligen Lautstärke, in der Mel das Nena-Lied „Leuchtturm“ heute spielte. Aber sie sprach ihr mit diesem Lied wirklich aus dem Herzen. Denn in diesem Augenblick hat die Liebe sie genommen und ist ohne sie zu fragen mit ihr raus aufs Meer geschwommen. Mel kann sich das erste mal in ihrem Leben von der trostlosen Landschaft ihrer Vergangenheit, von der noch deprimierenderen Gegenwart und vor allem vor der ungewissen Zukunft abstand nehmen. Das Gefühl, dass sich seit Weihnachten bei ihr breit machte – man nennt es wohl Liebe – belebt sie wie nichts zuvor. Als sie heute morgen aus dem Haus geht, um einen Winterspaziergang zu machen, gibt sie sogar ihrer Mutter fröhlich und liebevoll einen Kuss, die aus dem neuen Schwung und der Glückseligkeit ihrer Tochter nicht schlau wird und dadurch trotz ihrer sonstigen Scheinwelt gedankenverloren aus dem Haus geht, denn Feiertage kann sich eine Frau in ihrer Position leider nicht leisten. Doch Mels offensichtlich aufrichtige Freude, die wohl heute jeden blenden wird hat Frau Nazarski so überrascht, dass sie scheinbar ihre Maske vergessen hat und der Spot der Nazarski - Showbühne sucht orientierungslos nach seinem Star. Die Tür fliegt auf und Mel betritt das noch frostige, kühle 2004 mit einer Fröhlichkeit, die sie in diesem Jahr nie wieder erleben sollte. Wenn der Geruch der übermäßig gezündeten Feuerwerkskörper nach drei Tagen sich endlich verzieht kann man den einzigartigen Geruch von Neujahrsfrische wahrnehmen. Der kühle Wind, die frostige Kälte, die kahlen Bäume und der wolkenlose Himmel vermitteln Erik den Eindruck, dass die Atmosphäre an Neujahr so ist als ob jemand das Papier aufgerissen hätte, das bisweilen das Jahr 2004 eingeschweißt hatte. Vielleicht ist dieser Eindruck auch wieder nur eine Illusion und diese Atmosphäre ist lediglich ein Produkt der angegriffenen Umwelt, die durch den chemischen Schmutz der Feuerwerkskörper überstrapaziert ist und sich nun regenerieren muss – dies ist sogar wahrscheinlicher, denn was einst ein Irrglaube an Wintergeister war, die vertrieben werden müssten – der demnach aus einer intellektuell primitiven Zeit stammte – wurde heute zur Tradition, wo aus dem herkömmlichen Feuerwerk ein Event, ja wieder eine Show geworden ist.

Nun könnte man sich fragen, ob die Menschen sich intellektuell wirklich weiter entwickelt haben, oder ob sie nur die Tradition vorgeben, um nicht zugeben zu müssen, dass sie wirklich nicht mehr daran glauben. Aber es wäre doch albern das alljährliche Feuerwerk zu hinterfragen, oder?

Auf jeden Fall hatte die Neujahrsstimmung immer etwas von einem offenen Anfang. Als ob alle Konten auf Null wären und die Menschheit wie nach der Sintflut eine neue Chance bekäme. Und so verließ auch Erik heute fröhlich das Haus, denn er hatte kein Grund besorgt zu sein. Sein monotones Leben hat gegen Ende des letzten Jahres einen aufregenden Wandel genommen, das neue Jahr lag vor der Tür, er würde bald seinen Abschluss haben und könnte dann endlich anfangen zu leben ohne die ständigen Eskapaden des Jugendlichenalltags mitmachen zu müssen – Anfang offen! Ende nahe? – so schnell kann die Fröhlichkeit vergehen. Schon wieder so eine Eingebung – genau wie letztes Jahr. Offensichtlich doch kein Anfang offen, aber was bleibt dann noch??? Erik versuchte sich von den Gedanken abzubringen, indem er seinen Einkaufszettel durchging. Er soll nämlich zur Bäckerei, um für das Frühstück zu sorgen.

5 normale Brötchen
3 Körnerbrötchen
2 Mohnbrötchen
10 Eier
2 Kassler

Diese elf Begriffe zieren in leserlicher Schreibschrift den Zettel mit dem Erik sich nun tatsächlich ablenken konnte, wenngleich diese Eingebungen ihn ernsthaft beunruhigten. Es gibt doch am einen Neujahrs – Sonntagmorgen nichts schöneres als einen herrlich gedeckten Frühstückstisch, zwei Eier und einem warmen Kaffee und seine Liebe Mutter und der noch Sylvestermüde Bruder. Da gehörte alles zu dieser heimischen Tradition, selbst das Klingeln der Glocke über der Bäckereitür. Und dann dieses nette Mädchen hinter der Theke, die sicher gerade erst ihre Ausbildung begonnen. „Guten Morgen. Was darf es sein?“ Diese Bäckereiangestellten waren für Erik ein Phänomen. Egal zu welcher Tages- oder sogar Jahreszeit, ob Krieg herrschte oder ein anderes schlechtes Wetter, diese Frauen waren stets die freundlichsten Personen, denen man begegnen konnte. Ob man hier in einer Bäckerei ging oder zwei Kontinente entfernt. Offenbar gab es nirgendwo auf der Welt vergleichbar fröhlichere Menschen als in den Bäckereien dieser Welt. Erik kann auch diese Freundlichkeit nicht als Floskel oder Heuchlerei abtun, auch wenn das bei dieser auffälligen Freundlichkeit nahe liegt. Es schien ihm jedoch so aufrichtig und ehrlich, dass er sich von dieser Heuchlerei gerne blenden und anstecken ließ und er ebenso von übermäßiger Freundlichkeit erfüllt „Guten Morgen“ sagt und strahlend den Einkaufszettel überreicht: „Würden Sie mir das bitte zusammenstellen?“ Und mit einem „Gerne!“ schwingt sich die Frau – aufgeladen wie ein Duracel-Hase in die hinteren Gefilde der Bäckerei, um der Familie von Erik ein leckeres Frühstück zu ermöglichen. Auf dem Rückweg treffen sich Erik und Mel und umarmen sich innig mit einem gellenden „Frohes, neues Jahr!“ was auch 2005 wahrscheinlich noch nicht verklungen ist. Gar nicht mehr kontaktscheu, wie es noch vor guten vier Monaten war und für Mel war der Höhepunkt des Tages jetzt schon erreicht. Sie hatte IHREN Erik im Arm. Nach dem wichtigsten Gedankenaustausch löst sich Erik dann schweren Herzens von Mel mit einer halbstündigen Verspätung. Schließlich wollte Erik den Frühstückstisch decken bis einer mit einer Frage konfrontiert wurde mit der er nicht gerechnet hatte. Als er nämlich die „5 normalen Brötchen, 3Körnerbrötchen und die 2 Mohnbrötchen“ in eine Schale legen wollte fand er den Einkaufszettel neben den drei Körnerbrötchen und den zwei Mohnbrötchen wieder auf dessen Rückseite die freundliche Frau eine denkwürdige Frage geschrieben hatte. Es war eine Frage, die man eigentlich nicht stellen sollte,

zudem ein Jeder wohl die Lösung kennen sollte. Und so kam es, dass das Neujahrsfrühstück ebenso lecker und heiter wie sonst ist, doch es gab diesmal nur fünf Brötchen, denn auf dem Zettel der Kassiererin stand: „Entschuldigung! Aber was sind ‚normale Brötchen’? Sind die Körnerbrötchen unnormal?

Was ist normal?“