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Kapitel 3
Herbert, Christinas Vater
(vom 18.10.2003)

„Guten Morgen“, ruft der Lehrer. Einige Schüler erwidern sein freundliches „Hallo“. Christina antwortet nicht auf dieses „Guten Morgen“! Sinnlos! Sie hingegen fragt sich, was an diesem Morgen so gut sein sollte. Sie sitzt in ihrem Geschichts-Leistungskurs und sie würde noch neun Schulstunden genießen dürfen. Es geht um Epochen der Geschichte. Die Aufklärung: Aus der Unmüdigkeit in die Eigenverantwortung. Wie oft Menschen doch einen Wandel durchlebten. Der Lehrer spricht von Worten wie revolutionär, bahnbrechend, das Weltbild umstoßend, erschreckend und wegweisend. Und immer wieder legt Herr Gussling nahe, wie viel schlauer die Menschen zu dieser Zeit doch wurden. Sie wurden fortschrittlicher und lernten aus ihren Fehlern...wirklich? Gab es nicht demonstrativ oft erstaunliche Parallelen zwischen vergangenen Fehlern und aktuellen Ereignissen? Oder muss man es so verstehen, dass Kriege als sinnvoll erachtet werden, da man Ordnung wiederherstellen kann. Durch Chaos Ordnung herstellen... Aus Unmenschlichkeit Menschlichkeit erwachsen lassen... Immer mit der Fahne der Zivilisation bestückt.

Diese Fragen stellt sich Christina heute morgen

und sie beschließt, dass sie den Rest der Stunde ruhig verschlafen könne, da man aus der Geschichte offensichtlich eh nichts lernen kann und das ist ja nun mal die Intention des Geschichtsunterricht – wie Herr Gussling stets bemerkt. Sie hätte einen guten Grund die Leistung zu verweigern, wenn Herr Gussling sie fordern würde und gute Gründe sind heutzutage wichtig. Dies predigt zumindest immer ihr Vater – und sie gibt ihm Recht. Ihre Klassenkameraden halten nicht viel von ihren Eltern. Zurecht – denkt sie sich, denn ihr Vater ist ein Trinker und ihre Mutter sieht durch ihre Hausarbeit, die sie laut ihres Vaters natürlich sorgsam zu machen hat auch nicht mehr von der Welt, außer wenn sie sich gegen viertel vor acht der philosophischen Essenz der menschlichen Interaktion per Seifenoper widmet. Christina kann ihren Vater einfach nicht verstehen. Er fristet seinen Alltag im Suff. Er arbeitete früher bei einer Mobilfunkfirma im Management. Er hatte stets viel zu tun. Koordination, Ausführung, Bilanz und häufig auch Restauration. Er war das schlagende Herz des Unternehmens – immer flexibel, immer da. Er wurde befördert als Kreativmanager, was von ihm strikte Pflichterfüllung verlangte. Für ihn und seine Frau kam es unerwartet, aber jeder muss seine Verantwortung tragen, jemand muss die Brötchen verdienen und jeder muss ein Mobilfunknetz nutzen können. Frau Nazarski könnte ohne ihr Handy nicht leben. Mel erzählte Christina – die von ihr liebevoll Tina genannt wird – Abend im SLIDERS bei einem gemütlichen Cocktail einst wie sehr doch „Holland in Not war“ als Frau Nazarski ihr Handy verlor. „Wie soll man den ohne Mobiltelefon kommunizieren. Der Tag hat doch nur 24 Stunden und ich kann nicht arbeiten und persönliche Besprechungen gleichzeitig führen, dafür ist der Mensch nicht geschaffen.“ Frau Nazarski hatte noch am selben Tag ein neues Handy erstanden, dass sie in einer Preislage kaufte, die die Mobilfunkfirma von Christinas Vater für ein weiteres Jahr versorgen sollte. Aber das Handy hatte ja auch Fotofunktion und Farbdisplay. Das neueste vom Neuen. Für die verlorenen Daten, die auf dem Handy gespeichert waren – Telefonnummern, Adressen – werde sie noch ihren Anwalt anrufen, damit sie eine geldliche Entschädigung erhalte. Die Zeiten des Blatt Papiers sind vorbei – alles nur noch digital. „Vielleicht ein Aufatmen für die Bäume“ meinte Christina damals spöttisch. So musste sich Christinas Vater, den sie mit Herbert beim Vornamen nannte statt dieses alberne Vater oder das sentimentale Papa zu benutzen - viel um seinen Job kümmern. Für ihn und seine Frau würde noch genug Zeit sein, wenn sich alles wieder eingependelt hätte. Doch kurz nachdem er die Firma im Griff hatte stand eine Fusion mit einem englischen Konzern zur Sprache. Und seine Vorgesetzten wussten, dass die Firma nach dieser Fusion gefestigt sei, dass es keinen Restaurationsbedarf mehr gäbe und das der Gewinn höher wäre. Doch Fusionierung zweier solch großer Konzerne bedeutet gleichzeitig Arbeitsplatzrationalisierung. Christina war ein

Kind der Fusion.

Ihr Vater war vollends damit beschäftigt die Fusion gelingen zu lassen und das Marketing zu verbessern, so dass Christina erst nur ihre Mutter kennen lernte, die sich rührend und liebevoll um sie kümmerte und immer noch kümmert. Glücklich, dass wieder jemand bei ihr war und glücklich endlich ihre Tochter zu haben, auch wenn ihr Papa erst sehr viel später am Abend heimkehren wird. Manchmal blieb er auch ganz weg. Als sie fünf war sah sie wie auch vorher ihren Vater nur am späten Abend und sie wollte doch so gerne auch mal mit ihm zusammen sein. Doch er hatte um die Existenz zu kämpfen. Existenz!? Welche? Die der Firma? Die seiner Familie? Seine Eigene? Oder die Existenz? Mit Definitionsfragen tat er sich immer schwer und überließ das seiner Frau,

doch diese Existenzfragen stellte damals niemand

– auch er nicht! Eines Weihnachtsabends als Christinas Papa sich beeilte, um eher nach hause zu kommen, brachte er für seine Tochter einige Schokobrötchen mit, da sie doch so gerne Schokolade aß. Und seiner Frau hat er Blumen mitgebracht. Seine Frau wusste um seine Sorgen und machte jeden Abend wieder die Tür auf und brachte große Toleranz auf für seine Arbeit. Sie öffnete auch diesen Abend verschlafen die Tür und küsste und umarmte ihren Mann lange und liebevoll – er hatte an sie gedacht und sie wusste jede Geste zu schätzen. Gesten können viel bedeuten. In einer derart hektischen Welt sollte man stets seine Absichten kund tun und auf seine Mitmenschen bedacht sein. Doch ist es nicht eigentlich traurig, wenn man ein menschliches Selbstverständnis durch Gestikulation repräsentieren muss? Wo bleibt da die weiterentwickelte, die menschliche Sensibilität?

Doch diese Frage stellte sich Christinas Mutter heute Abend überhaupt nicht

. Nach einer ausgiebigen Liebesbekundung und einem schon lange ersehnten intimen Moment, wo nur noch Liebe blieb musste Tinas Vater einsehen, dass Christina erst morgen die Schokobrötchen essen würde, denn es war viel zu spät... Er war viel zu spät... Die Zeit war ihm an diesem Abend nicht wohl gesonnen! Aber er hatte die leckeren Brötchen für sie liebevoll aufbewahrt. Als seine Frau verschlafen in ihr Bett zurückkehrte, um genügend Schlaf für den nächsten Tag zu bekommen war die Sehnsucht nach dem Leben, dass er einst kannte noch nicht befriedigt. Ihm blieb noch ein letzter Blick durch den Türspalt, der zu Tinas Zimmer führte. Aber für ihn sollte es nicht bei diesem Blick bleiben. Er schaltete vorsorgend das Licht im Flur aus und ertastete leise den Weg zu Tinas Bettkante, wo er sich seine Tochter unter dem Schein des Schlafzimmerlichts, dass aus dem Raum gegenüber wie gedimmtes Licht herein schien beschaute. Dieser Moment setzte für ihn Zeit und Raum außer Kraft. Er merkte, dass er seine Tochter noch nie von Herzen lachen sah, er wusste, dass er sie niemals gewickelt hat, er kennt ihre ersten Worte nicht und er weiß nicht, was ihre Lieblingsfarbe ist. Alles was er weiß, weiß er aus Erzählungen, die unter dem Alltagsstress nur noch als verblasste Erinnerungen zurückblieben. Er wettete, dass seine Tochter nicht wissen würde, wie sie ihn anreden sollte, da sie ihn höchstens für fünf Minuten am Abend sah, nur eine Hälfte des Gesichts von gedimmten Licht beschienen. Er wusste auch nicht mehr ganz genau, was seine Frau bewegte und wenn er ehrlich zu sich selbst war, wusste er auch nicht mehr wer er ist. Zu viel des Guten. Er wollte mehr von seinem Leben haben als nur die Arbeit und er wollte auch mehr von seiner Familie haben und seine Familie wollte merklich auch mehr davon. So beschloss er seine Verantwortung zu minimieren und mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen, was theoretisch auch möglich sein sollte, da die Funktionalität nach der Fusion nun auch weitgehend gesichert sein sollte. Die Firma erklärte sich einverstanden, da seine Argumente überzeugend waren – wenn sie auch unzufrieden zurückblieben. Von

persönlichen Gründen wollte damals niemand was hören

. So arbeitete er nur noch halbtags bis 12 Uhr und arbeitete noch 6 Stunden per Internet und Telefon in Bereitschaft zuhause. Jetzt war er beim Mittagessen zu Hause, merkte schnell beim Spielen mit seiner Tochter, dass sie überwiegend königsblaue Spielzeuge hatte, lachte mit ihr herzhaft über das Dinobaby aus dem Fernsehen und fühlte sich zurück in der Realität. Alles war so schön – noch sieben weitere Jahre lang. Christina sollte in den sieben Jahren nicht merken, dass ihr Vater ihr manchmal nur 2 statt 4 Schokoladenbrötchen mitbrachte und sie sollte nicht merken, dass Mama nur so stark Acht auf die Schuhpflege gab, da sie sich nicht immer Neue leisten konnten. Das Geld wurde oft knapp, denn durch die „verminderte Produktivität und den Einsatz eines anderen Vollzeitbeschäftigten“ – wie die Firma es formulierte, wurde sein Einkommen verringert. Das alles merkte Christina auch nicht, doch im siebten Jahr merkte sie, dass ihr Papa – wie sie ihn immer liebevoll rief – bei dem Dinobaby nicht mehr so herzlich lachte. Und sie sah viel mehr Sorgenfalten als früher. Auch zwischen Mama und ihm gab es öfter Streit. Und ihr Gefühl war richtig – ihr Papa spürte, dass der junge, bestrebte Vollzeitarbeiter seinen Posten übernehmen will sobald er genug Fertigkeit und Autorität besitzt. Doch das konnte eigentlich nicht geschehen. Tinas Vater war die Seele der Firma, er erhielt die Firma am Leben und machte die Fusion möglich – er, der bereits im 15. Jahr dort arbeitete. Doch in letzter Zeit mangelte es an Produktivität. Es geschah wie es geschehen sollte! Kündigung aufgrund von Arbeitsplatzrationalisierung und finanzielle Belastung der Firma. Offensichtlich hat Tinas Vater die falsche Entscheidung getroffen. Er hat doch nichts anderes gelernt und er war mittlerweile mit 38 nicht mehr der Jüngste! Eine Welt brach für ihn zusammen. Er konnte die Familie nicht mehr versorgen, sein schmerzender Rücken, den er als „Andenken“ an eine arbeitsreiche Zeit behielt, war umsonst und er endete mit seiner Familie beim Sozialamt... Oh wie gut, dass es das Deutsche Sozialsystem gibt. Tina und ihre Mutter sagten, dass sie diese Zeit schon überstehen würden und dass nicht alles umsonst war, denn er hat zu einer hektischen Zeit den Überblick behalten, war immer für seine Familie da, hat seinen Rücken für die Schokobrötchen geopfert und brachte Blumen und ein Lachen mit nach Hause, obwohl weder die Zeit zum Lachen war noch ihm nach Lachen zu Mute war. Doch dieses Verständnis von Glück wurde ihm spätestens da genommen als er bemerkte, dass er beim Sozialamt keinen Antrag auf Schokobrötchen zwecks Liebe stellen konnte.