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Kapitel 4
Klänge der Stille
(vom 19.10.2003)

Deprimierende Zeiten kamen für Tina und ihre Familie auf. Sie musste jeden Tag in ein leeres Gesicht blicken, ohne Lebenslust, ohne Glücksempfinden. Jedenfalls am Nachmittag. Vormittags nicht. Im ersten Jahr klingelte jeden Morgen gegen fünf Uhr der Wecker im gegenüberliegenden Schlafzimmer. Zumeist schaltete Tinas Vater ihn vorher ab, da er – wie auch in den letzten fünfzehn Jahren schon gegen viertel vor wach war. Tina realisierte damals noch nicht, dass es wahrlich viertel vor war! Es sollte nicht mehr lange dauern und das Universum sollte zusammenbrechen,

aber sich diese Frage zu stellen war Christina damals noch nicht fähig.

Christinas Vater stand stöhnend, abgearbeitet auf und beeilte sich mit der allmorgendlichen Katzenwäsche – denn für richtiges Waschen war schon seit fünfzehn Jahren morgens keine Zeit mehr. Er zog sich einen seiner besten Anzüge an und ließ sich von Mama die Krawatte binden. Dann aß er schnell einen Happen und verschwand dann aus der Tür. Am Anfang hatte niemand darüber nachgedacht, wo Papa jetzt hingeht, denn es ist ja werktags und es ist morgens und seine Mobilfunkfirma... Ja, die brauchte ihn nicht mehr! Christinas Papa war auch niemals allzu lange weg. Er kam meist um zwölf wieder, um das Mittagessen mit einzunehmen – so wie er es in den letzten sieben Jahren tat, doch Mama fiel auf, dass er keine Lust mehr hatte zu kochen. Es sollte aber nicht dabei bleiben. Allmählich verlor er auch den instinktiven Drang um viertel vor fünf aufzustehen. Erst klingelte der Wecker nur höchstens den Bruchteil einer Sekunde, später klingelte er schon mal eine gute Minute bis Christinas Papa ihn ausschaltete. Die letzten paar Wochen bis Christinas dreizehnten Geburtstag klingelte der Wecker länger und lauter denje bis Mama ihn dann letztlich ausschaltete. Der Wecker wurde dann mitsamt der Anzüge und jedem Accessoire, egal ob es ein bedeutender Laptop oder ein unbedeutender Hemdknopf auf den Dachboden in eine Kiste gebracht! Ihr Vater glaubte seinen Schmerz darin einwickeln und wegschließen zu können. Er wollte sich wieder seiner Familie widmen, doch all diese Ruhe konnte er nicht ertragen. „Sounds of Silence“ von Simon & Garfunkel mussten sich Christina und ihre Mutter jeden Abend in voller Lautstärke anhören – nicht nur das Selbstmitleid erfasste ihn oder besser seine gesamte Existenz, sondern auch das Gefühl des Unnützseins, der Zeitverschwendung und der Unglaubwürdigkeit. Er hatte immer Ehrgeiz und Lebensfreude, doch auch er musste erkennen, dass Freude schwer fällt, wenn es um einen herum kalt ist. „Sounds of Silence“ jeden Abend – ein weiteres Jahr lang und trotz allem Vergnügen, das er der Familie bereiten wollte, sollten seine beiden Lieblinge nie wieder ein Lachen von ihm sehen. „Ich erinnere mich an einem Samstag vor dem ersten Advent.“ erzählte Christina Mel. „Papa nahm sich vor mit mir in einen Vergnügungspark zu fahren und wir taten es. Und als er nur mit mir zusammen war, sah ich ihn an, wie er diesen Moment genoss. Es dauerte nicht lange und er begann zu grinsen.“ Mel fragte nach einem Zeichen der Besserung – vom Passiv-Dasein ins Aktiv-Dasein. „Ja – es schien so. Aus dem Grinsen wäre wahrscheinlich auch ein herzhaftes Lachen geworden, wenn ich ihn darauf nicht gefragt hätte, was er sich zum damals bevorstehenden Weihnachtsfest wünschte.“ Christinas Vater erkannte, dass er nicht mal mehr die Möglichkeit hatte seiner Tochter ein tolles Weihnachtsgeschenk zu machen. Wenn er ehrlich war, dann hatte er es sich sogar vom Mund abgespart ein paar Stunden im Vergnügungspark zu verbringen! Das hatte er bis hierher verdrängt, doch der Gedanke, dass er dieses Weihnachten seiner Tochter keinen Herzenswunsch erfüllen könne, machte ihn buchstäblich krank. Er sagte, es sei nur noch eine Frage der Zeit bis seine Frau ihn verlässt und seine Tochter wird ja auch immer älter. Wenn er nicht mehr die Möglichkeit hat seiner Tochter die Welt zu verbessern, dann wird sie mit der goldenen 18 – der Reife und der Zeit der Volljährigkeit wahrscheinlich hoffend auf eine bessere Heimat das Haus verlassen. Was bliebe ihm dann noch? Nicht mal mehr er selbst – nur noch eine leere Menschenhülle. Was er damals nicht bedachte ist, dass seine Familie niemals so denken würde. Es war stets eine Familie der Liebe und des Mitgefühls. Das war immer seine Lehre und sie kam an, auch wenn er in der Vergangenheit nicht so oft dasein konnte. Ist Heimat ein Ort? Ist Heimat ein Gefühl?

Aber diese Bedenken gab es niemals und es ist fraglich ob sie jemals bedacht würde!

Er fühlte eine Ernüchterung, er fühlte eine Sinnlosigkeit. Er merkte, dass er wohl alles falsch gemacht haben muss! Er hatte sich für die Karriere entschieden als er sich hätte um seine Tochter kümmern müssen. Er hatte sich nur um seine Tochter gekümmert, obwohl seine Frau auch viel Aufmerksamkeit brauchte. Er hatte sich für die Familie entschieden als er sich hätte um seinen Job kümmern müssen. Er hatte nicht nur sich selbst, sondern auch seine Familie verraten. Als die Schiffsschaukel zum Stehen kam sagte Herbert bestimmend und entschlossen zu Christina, dass sie gehen müssen, weil er noch etwas zu tun hätte. Es war nicht Tinas Absicht, aber dieser plötzliche Abfall der Freude und das abrupte nach Hause fahren erschien ihr tatsächlich wie Verrat. Sie wusste nichts von seinen Gedanken und deswegen war es unmöglich so gemeint, aber er kannte auch nicht ihre Gedanken! Auch wenn er von ihnen wusste. Hätte er sie wirklich gekannt, wäre wahrscheinlich alles anders! Auf dieser Heimfahrt redete Tinas Herbert kein Wort mehr sondern starrte wieder gedankenverloren, doch konzentriert auf die Fahrbahn. Dies war der letzte Tag, an dem Christina mit ihrem Vater reden konnte und der letzte Tag an dem ein echtes Lachen klang. Noch am selben Abend verließ Herbert in seinem besten Anzug, den er aus der Dachbodenkiste hervorkramte und nahezu apathisch wusch und bügelte, das Haus! Gut gekleidet im strahlenden Designer-Anzug verließ Herbert seine Vergangenheit und kam in einer neuen Gegenwart nach zwei Tagen wieder nach Hause – ohne Anzugsjacke, mit zerrissener Hose und nach Alkohol riechend. Tina konnte diesen Geruch nicht ausstehen. Sie hoffte, dass er bald verfliegt, doch sie wusste noch nicht, dass sie dieser Geruch noch ihre gesamte Pubertät begleiten sollte. Ihre Mutter fragte nur, wo Herbert war und kümmerte sich darum, dass er reinlich ins Bett kam. Er antwortete, dass er es nicht weiß und dass er genau so wenig wüsste, wo er herkommt, aber dass Vergangenes seine Gegenwart ausmacht!

Viele Fragen drängen sich bei solchen Worten auf, doch sie blieben ungefragt und unbeantwortet!

Der dreizehnte Geburtstag stand bevor. Dreizehn Jahre nach dem Jahr der Fusion. Damals war Christina zwölf.