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Kapitel 5
Alles Gute
(vom 19.10.2003)

Heute ist Christina bei der goldenen 18 – der Reife und der Zeit der Volljährigkeit angekommen. Wahrlich, sie ist nicht unbedingt glücklich! Ihr Vater ist ein predigender Trinker geworden, der sein Selbstmitleid ihrer Ansicht nach genießen muss. Ihre Mutter ist immer noch für alle Fragen und Anliegen, die sie hat da – da braucht sie doch keinen Rat. Aber ihre Mama hat im Haushalt eh genug zu tun. Christina ist mit ihren zarten achtzehn schon sehr selbstständig. Sie hat einen Nebenjob und arbeitet viermal in der Woche im örtlichen Supermarkt, denn sie möchte nicht jetzt schon beim Sozialamt sein und sie will ihr eigenes Geld verdienen – auch das findet ihr Vater gut, denkt sie zumindest, denn ihr Herbert äußert eigentlich niemals explizit irgendwelchen Stolz. Das ist ihr aber auch egal, denn auf die Anerkennung eines charakterlosen Säufers kann sie auch getrost verzichten. Vielleicht hatten ihre Freunde Recht, wenn sie sagen, dass sie schwer zum Lachen zu bringen ist, vielleicht hatten sie ja auch Recht, wenn sie sagten, dass sie einen Hang zum Pessimismus hätte. Aber sie bestritt oft, dass man von ihrem Vater nicht viel halten müsse, obwohl sie in der Tat auch so denkt. Was sie später mal wird ist ihr relativ egal, hauptsache sie gerät nicht in geldliche oder gesundheitliche Not. Sie denkt nicht im Entferntesten an diverse Liebesbeziehungen zu Jungs und noch ferner an zukünftiger Heirat und dem daraus resultierenden Familienglück mit den Kindern. Sie träumt nicht von einem Leben als Mutter mit einem Jungen und einem Mädchen und noch weniger glaubt sie an wahre Liebe oder wahrer Freundschaft. Sie genoß oft die Zeit mit ihren Freunden im SLIDERS, in der Schule, an Feiertagen und zu jedem sonstigen Ereignis, doch sie hat niemals jemanden ihre Liebe bekundet noch explizite Freundschaft bekundet. Ja, sie befürchtete fast das dieser Elternspruch „Du kannst niemanden trauen außer Dir selbst“ dunkle Wahrheit werden könnte. Denn wenn sie es sich recht überlegte glaubte sie nicht an Vertrauen von ihren Eltern, wenn sie auch ihrer Mutter vertraute, denn diese hatte sie schließlich niemals enttäuscht. Sie war nur durch ihre übermäßige Hausarbeit unzuverlässig...aber niemals enttäuschend. Ihr Vater ließ sie in der Vergangenheit – sie erinnert sich nicht mehr so ganz genau – auf einer Schiffsschaukel sitzen. Sie denkt, dass sie dort ihr letztes Vertrauen in ihm verlor, aber sie will ja jetzt nicht melodramatisch werden. Sie fristet ihren Alltag und lebt in ebendiesen hinein ohne einen weiteren Gedanken an die Zukunft zu verschwenden, denn es fängt alles irgendwie immer wieder von vorne an. Daran glaubt sie. Wenn sie auch an keine Religion glaubt. Sie ist nicht christlich, nicht buddhistisch, nicht jüdisch oder islamisch. Sie ist einfach sie selbst. Sie glaubt an das, was sie erlebte und an das, was sie sieht. Man mag sie als „ungläubigen Judas“ beschimpfen und des Meinungsentzugs beschuldigen, aber letztlich legt sie keinen Wert auf irgendwelche Meinungsbekundungen über ihren Charakter, denn sie denkt, dass sie bereits genug gesehen und bewertet hätte und wenn sie sich die Geschichte der Menschen anschaut „unter historischen Aspekten“ – wie ihr Geschichtslehrer immer propagiert, dann fühlt sie sich in ihrer Ansicht auch bestätigt. Es ist auch nicht so, dass sie diese Religionen verachtet oder die philosophischen Aspekte des Lebens verleugnet, aber sie sieht keinen Sinn in der Auseinandersetzung damit, denn es würde sich dennoch nichts ändern. Sie lebt ihren eigenen Stil und ein Jeder hätte Recht, wenn er sie als lebensmüde bezeichnen würde – ein Jeder. Ein Jeder,

der über diese Fragestellung nachdenkt.

Doch das wird niemand, denn die Beschäftigung mit der Soziologie der Gegenwart fällt erst gegen Ende der dreizehnten Klasse an. Und aufgrund eines komprimierten Zeitrahmens wird das Curriculum diese Fragestellungen auch nicht zulassen genau wie es keinen Antrag beim Sozialamt auf Herzenswünsche gibt, genau wie das Ende der Anfang ist und genau wie Religion ein Glaube ist – eine hoffnungslose Rationalistin in der Reife, in der Zeit der Volljährigkeit. Und am Ende dieses Gedankengangs steht eine verblasste Erinnerung von einem Menschen, den Christina einst Papa nannte und er sagt „Alles wird gut!“.