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Kapitel 6
Kuchen
(vom 20.10.2003)

Das Dröhnen der Schulglocke weckt wohl selbst den schläfrigsten Tiger und reißt auch sinnierende Menschen aus seinen Gedanken. So hatte Christina die Geschichtsstunde tatsächlich verschlafen und sie hatte von einem schönen Vergnügungspark mit einer Schiffsschaukel als Hauptattraktion geträumt. Kann es einen schöneren Traum geben? Schräg gegenüber erblickt sie Erik. Er hat die Einstellung, dass Menschen ihm eine bestimmte Grundhaltung entgegen bringen sollten. Ansonsten nahm er alles andere nur sehr intolerant war. Er beschäftigt sich in seiner Freizeit – ganz im Gegensatz zu Christina viel mit philosophischen, theologischen und wissenschaftlichen Betrachtungsweisen. Seiner Ansicht nach überschreiten die Menschen durch ihre Zügellosigkeit oft Grenzen, die besser gewahrt bleiben sollten und dadurch bedingt repräsentieren sie oft noch nicht mal mehr die nötige Höflichkeit im täglichen Umgang. Grönemeyers Lied „Mensch“ spricht ihm regelrecht aus dem Herzen und ganz im Sinne seines Deutschlehrers gibt es seines Erachtens nichts, dass nicht zu interpretieren ist. Und wenn Herr Herbert Grönemeyer in einem Interview sagt, dass die Menschen durch ihre Interpretationen oft seine Intentionen überbewerten will das selbst Erik nicht hören. „Der Mensch heißt Mensch weil er vergisst weil er verdrängt und weil er hofft und liebt, weil er mitfühlt und vergibt“ – das ist nicht genial einfach, das ist komplex zu interpretieren. So hat wohl jeder seinen Glauben. Er würde sich selbst als sehr nachdenklichen Menschen bezeichnen und er hat stets die Intention diese Welt zu verbessern. Er glaubt verbittert und vom Gesellschaftszwang verletzt weiter an die Liebe und an das Glück, dass er einst erreichen wird und hofft, dass er was zu einer besseren Zukunft beitragen kann – nicht nur in seinem Sinne. Das ist kein einfacher Optimismus oder utopisches Bestreben nach Heilung der Weltkrankheit, sondern eine verlorene Suche nach einem verlorenen Paradies, die letztendlich damit endet, dass Erik sich wohl selbst verliert, denn

manchmal ist ein Kuchen einfach nur ein Kuchen und nicht mehr!

So gibt es leider nun mal Tage in Eriks Leben, wo nur noch der Glaube an der Sonnenuntergangsvision bleibt und er auch keine Lust mehr hat irgendetwas zu interpretieren. Erik versteht sich gut mit seinen Klassenkameraden und die Oberstufe schafft er mit einem befriedigenden Durchschnitt, jedoch ist er sehr zurückgezogen und selbst überzeugt. Eigentlich hatte er einst vor nach dem Gymnasium Journalismus zu studieren oder zumindest zu studieren, um im journalistischen Bereich zu arbeiten. Da könnte er seine Meinung kund tun und Sachverhalte, die politisch oder soziologisch geartet sind bewerten und den Menschen vielleicht jeden Morgen etwas mit auf ihren Weg zur Arbeit geben, nachdem sie aufmerksam die Zeitung beim Frühstück gelesen hätten. Der Geschmack ihres Kaffees würde sie an seinen Artikel und dessen Quintessenz erinnern. Doch für das Journalismusstudium muss man ja nach der Oberstufe einen Numerus Clausus haben und wenn man wirklich im Journalismus was werden wollte, dann muss man seine Seele schon für diesen Job geben. Und seit einiger Zeit realisierte Erik, dass er trotz allem Potentials und aller schon erbrachten Leistungen nicht der Typ für solch ein Leben war. Erst neulich hatte er noch erfahren,

dass es Dinge im Leben gibt, die man weder kaufen noch kalkulieren kann

. Doch wer wolle schon von etwas wissen, dass keinen Wert hat? Mit Wertvorstellungen bezeichnet man selbstverständlich finanzielle Werte! Denn offensichtlich würde es kein natürliches Streben des Menschen mehr geben, wenn er nicht die Absicht hätte Profit zu erzielen. Kapitalistisch, egoistisch, konsumbewusst, von Obrigkeiten bestimmt immer mit der indirekten Frage nach Bedarf – natürlich, denn das muss doch in der Natur des Menschen liegen, oder? Jeder machte das doch, oder? Und was die breite Masse macht kann nur richtig sein, oder? Das haben wir doch schon immer im Laufe unseres Menschenlebens aufgrund dieser dynamischen und trotzdem unkoordinierten Gemeinschaft egal wo man hinkommt gespürt, oder etwa nicht? Das ist halt der Bund der Menschen, denn wir verstehen uns schon, egal welcher Herkunft, oder?

Fragen, die wohl niemand jemals stellen wird, denn die Antwort ist die Vorstellung eines Selbstverständnisses, dass laut Vater Staat nicht anzuzweifeln ist!

Aber es besteht ja Meinungsfreiheit – wird ein Jeder jetzt – mit Recht ?- einwenden. Die Schule ist endlich aus – das letzte Glockenklingeln für diesen Tag. Für Erik sollte das eigentlich, genau wie für die anderen Schüler Erleichterung bedeuten, doch er weiß, dass er jetzt noch eine Ein-Stunden-Zugfahrt vor sich hat. Erik musste jeden Morgen per Zug in das Zentrum der Stadt fahren, da er sehr weit in der Peripherie wohnt. Dort war jedoch keine geeignete Schule für ihn. Nur ein Berufskolleg auf dem man einen chemisch-, elektrotechnisch, oder medientechnischen Ausbildungsgang in Anspruch nehmen konnte. Dort hätte er in Verbindung mit einem Praktikum eine Berufsausbildung und Fachabitur erwerben können, allerdings wäre er dann nur auf seinen Fachbereich spezialisiert gewesen und da er trotz seiner neunzehn Jahre immer noch nicht genau wusste, was er machen sollte und ihm der naturwissenschaftliche Bereich doch nicht lag wählte er das Gymnasium, das eine Stunde entfernt lag. Er weiß, dass er zu mehr berufen ist als mit elektronischen Teilchen herumzubasteln, chemische Explosivgemische zu beobachten oder Filmbeiträge zu analysieren, wenn er auch noch nicht genau weiß, was das sein sollte. Mit dem Auto war das Gymnasium zwar in zehn Minuten erreicht, aber der Zug macht einen Umweg, damit alle Orte in der Umgebung erreicht werden konnten. Und Erik muss jeden Morgen mit dem Zug fahren, denn seine Mutter hat kein Auto mit dem sie ihn fahren könnte. So verlässt er nun das Schulgebäude und saugt den Duft der Luft, die aus den hochtechnisch eingerichteten Schulgebäude durch die geschlossenen Fenster als Sprungbrett für die Stickig- und Müdigkeit verbannt wurde buchstäblich in sich auf. FREIHEIT war dann meist ein Begriff, der sich ihm unweigerlich aufdrängte ohne dass er über die Bedeutung und Herkunft dieses Begriffes Sorgen machte. Warum bezeichnet er als neunzehnjähriger Schüler die Flucht aus dem Schulalltag als Freiheit? Inwiefern könnte er sich denn gefangen fühlen? Und wer sind seine Peiniger?

Fragen, die den Menschen Angst machen und weshalb sie gerne verdrängt werden...

ebendeswegen wird auch Erik über diesen Begriff nicht nachdenken. Das werden sie bestimmt im zweiten Halbjahr besprechen... Keiner ist offensichtlich glücklicher über das Schulglockenklingeln als Christina, die gerade fröhlich laut rufend – extrovertiert und temperamentvoll wie sie ist – aus dem Schulgebäude rennt und ihrer Freundin Mel zuruft, wann sie sich heute Nachmittag treffen könnten. Diese Christina fällt Erik schon seit seinem ersten Schultag in der elften Klasse auf. Sie nimmt niemals ein Blatt vor dem Mund, lebt frei nach dem Motto

„Man sollte sagen, was man denkt“

und scheint ein nettes und gebildetes Mädchen zu sein. In ihrer Gegenwart verblassen quasi alle anderen Schüler, denn sie hat solch eine starke Ausstrahlung, dass sie Erik förmlich blendet. Ob sie wohl einen Freund hat. Nein, Erik konnte nicht von der Hand weisen, dass er sie manchmal – wenn sie gemeinsamen Unterricht hatten anstarrt. Dabei merkt er das manchmal noch nicht mal, dass er dies tat. Vielleicht hat er sich sogar verliebt, vielleicht singt er auch gelegentlich – wenn er bei seinen CDs zu Hause mitsang und der Satz „I’m still waiting for your love“ fiel sogar sie an, vielleicht will er diese Zuneigung auch nicht wahrnehmen, weil er noch wenig Erfahrung hatte und er bisher nur Fehlschläge erlitt und er sowieso an die Einzige glaubt und alles andere außer eine zumindest lange andauernde Beziehung auf Treuebasis für ihn nicht in Frage kommt. So lief Christina Richtung Roller und fährt aufgewühlt wie immer davon und damit fahren dann auch vormals die Gedanken, die Erik hatte davon...