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Kapitel 7
Rattengift
(vom 20.10.2003)

So sitzt Erik – mittlerweile das sechste Mal am Hauptbahnhof, wo er bald in seine S-Bahn einsteigt, die ihn nach Hause führt. In der Zwischenzeit liest er sich dann zumeist den Schulstoff vom nächsten Tag noch mal durch und anschließend genießt er dann noch ein gutes Buch. Er würde heute durch seinen zehn Stunden Schultag erst gegen 18 Uhr zu Hause sein, müsste sich dann mit seinen Hausaufgaben beeilen, um auch noch ein wenig Freizeit vor dem Schlafen gehen zu haben. Aber wie es immer am Mittwoch ist, wird er erst mit allem gegen 23 Uhr fertig sein und seine Freizeit lässt er sich durch die Schule ja dann auch nicht nehmen, woraufhin er dann wieder kurzerhand beschließen wird noch ein Stündchen das zu machen, wozu er Lust hat. Und da diese Aktivität dann meist eine Stunde länger dauert als erwartet wird er vermutlich erst gegen viertel nach Eins im Bett sein. Um viertel nach. Und um sechs sollte er dann wieder schweren Gemütes aufstehen müssen und sich auf seinen Schultag und die wieder anstehende Zugfahrt freuen müssen. Der Alltag ist für ihn tatsächlich nur ein Grau in Grau, wie es poetisch immer so prägnant beschrieben wird. Alles scheint so kalkulierbar, abschätzbar, einfach gestrickt und kalt. Da soll sich noch mal Josch über seinen übertriebenen Hang zur Sonnenuntergangsvision in seinen Gedichten beschweren. Er meinte, man müsste nicht immer gleich „den Teufel an die Wand malen“ – alles wird immer wieder gut! Ja, er ist ein guter Freund von Erik, er ist gebildet und clever. Nicht jemanden, den man so einfach durch eine Wortklauberei verunsichert. Und genauso geht er auch mit Redewendungen um – leichtfertig und überzeugt, aber

manchmal ist das Leben nicht so wie in einem Bilderbuch.


Und die Ziele des Lebens sind auch oft nicht so leicht zu erreichen, wie die smarte Rocklady in den coolen Sportwagen mit weißen Lederbezügen in dem bekannten Musikvideo auf einem der viel gehörten Musiksender steigt.

Doch so unverblümt können manche Menschen das Leben sehen, so wie es Josch auch tut.


Erik macht sich jetzt schon wieder Vorwürfe, dass er alles so schwarz malt, aber heute ist mal wieder so ein Tag, an dem es regnet und wo Erik sich verlassen und so fühlt, als ob die ganze Last dieser Welt auf seinen Rücken zu tragen wäre. Zumal er doch so oft an Christina denkt und ihm Josch auch nicht aus dem Kopf gehen sollte. Mitten in der Meute am Hauptbahnhof kann man sich einsamer vorkommen als man denkt. Und das schlimme daran ist, dass man das auch noch rational begründen kann, denn wenn man jetzt wirklich Hilfe bräuchte, dann wäre niemand da. Erik bezweifelt sogar, dass wenn eine ältere Frau jetzt hinfallen würde, ob dann jemand seine helfende Hand reichen würde. Ja, es mangelte heute an Hilfsbereitschaft und vielen anderen eigentlich elementaren menschlichen Eigenschaften – beschloss Erik einstimmig mit seinem Gewissen. Früher war es doch so, dass wenn man jetzt das Bedürfnis gehabt hätte in den Arm genommen zu werden, dass ein Wildfremder dies sogar mit Mitgefühl getan hätte und heute ist die Frau, in dem Anzug da vorne viel zu sehr mit ihrem Handymenü beschäftigt... ist das nicht Mels Mutter? Sei’s drum! In dem Moment als Erik über die stürzende Frau nachdenkt schaut er in den tiefen Abgrund, der auf die Zuggleise führt. Dort glaubt er seine Definition von Mitgefühl zu sehen: Zwei Ratten knabbern hungrig an ein halb gegessenes und auf die Gleise geworfenes Brötchen. Sie leben normalerweise hier. Sie lebten schon hier als es noch kein Beton, kein Gleis und keine Kanalisation gab. Sie lebten einst im Feld und aßen Pflanzen. Heute werden sie in die Kanalisation verbannt und müssen Müll und Giftstoffe schlucken. Und wenn sie sich dann anpassen, dann werden sie als Plage bezeichnet. So sitzen auch wir Menschen auf einem Zuggleis – nicht wissend, was ein Zuggleis ist – hungrig-hilflos an einem Brötchen knabbernd und wissen nicht, dass uns jederzeit der Zug überrollen könnte. Das ist für Erik heute die Realität. Das kann morgen schon wieder ganz anders aussehen. Und da ist Eriks Zug. Hier beginnt das Ende seines Tages. Erik ist ein glückliches Kind mit der Ausnahme, dass seine Eltern geschieden sind und seine Mutter sich viel um den neugeborenen Bruder kümmern muss. Vor drei Jahren begann Eriks Vater eine Reise zu den Niederlanden und kehrte nicht wieder. Seine Mutter sagte ihm damals nicht, wo er hin sei. Sie sagte nur, dass er wahrscheinlich für über ein Jahr weg sein wird und dass er nun Erwachsenheit zeigen müsse. Sie braucht ein wenig Hilfe beim einkaufen und bei Hausarbeiten, er müsste vielleicht gelegentlich babysitten oder einfach nur ein offenes Ohr für sie haben. Das plötzliche Verschwinden von Eriks Vater mag auch mit seiner Unkontrolliertheit und seinem seltsamen Verhalten in der damaligen letzten Zeit zusammenhängen. Erik vermisste schnell seinen Vater. Er war immer sein Vorbild und er teilte viele Hobbys mit ihm und viel gemeinsame Zeit verbindet die beiden. Erik würde nie etwas auf seinen Vater kommen lassen! Erik und seine Mutter waren immer schon sehr verbunden, denn er weiß immer, was sie fühlt und genau so umgekehrt. Er glaubt daran, dass die beiden seelenverwandt sind und sie redeten oft nächtelang durch. Zumindest taten sie das bis Eriks Vater verschwand und sich deren Leben nahezu komplett änderte, denn Eriks Mutter kommt mit den neuen Verantwortungen nicht ganz zu Recht zumal sie mittlerweile so wenig Zeit für sich hat, da sie morgens mit der Hausarbeit beschäftigt, nachmittags bis sieben Uhr mit dem ihr anspruchsvoll erscheinenden Zwei-Jährigen beschäftigt ist (und sie gibt wirklich ihr Bestes, denn sie möchte schließlich keine schlechte Mama sein – auch nicht beim zweiten Kind) und sie dann abends kaum noch gegen ihre Müdigkeit ankämpfen kann. Dann beliebt sie normalerweise ein Buch zu lesen. Sie ist sehr belesen und die magischen Scheibenwelten von Terry Pratchett, das unheilvolle Mordor von Ronald Reul Tolkien und die Grüfte des geheimnisvollen Professor Moriarty von Sir Arthur Conan Doyle waren nahezu ihr zweites Zuhause. Doch die Müdigkeit ist dann abends dominierender als die seelische Heimat. Bis heute ist Eriks Vater nicht wieder zurückgekehrt und seine Mutter sagte ihm auch nach einem Jahr, dass sie ohne seinen Vater leben müssen. Wenn jemand nach dem Verschwinden von Eriks Vater fragt, dann antwortet er, dass er im Ausland arbeite und nur selten von dort anrufen kann. Er hätte dort wichtige Geschäfte für den Lebensunterhalt der Familie durchzuführen, obwohl Erik ganz genau wusste, dass sein Vater einfacher Postbeamter war, der in Bezirk 4,5 und 6 die Hauspost verteilte. So wie Christinas Vater nie erzählte, wo er die zwei Tage lang war, fand Erik nie heraus, warum sein lieber Vater nicht mehr da ist. Nach diesen drei Jahren hat sich Erik damit abgefunden, was er zu tun hat und das sein Vater nicht mehr da ist, auch wenn er abends oft in sein Kissen weint, da der Schmerz des Vermissens zu stark ist. So ist Erik auch heute Abend schon um 23 Uhr im Bett, nicht nur wegen überschwänglicher Müdigkeit und Lustlosigkeit... Tränen im Kissen.