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Kapitel 8
Erwartungshaltungen
(vom 21.10.2003)

Das Vogelgezwitscher wäre nicht das Problem gewesen. Das leise Geplätscher des Baches beruhigt auch eher als das es weckt. Nur irgendwo muss ein wildes Tier, ein Mensch hergelaufen sein, denn plötzlich flogen die Vögel des Waldes hell aufgescheucht fliehend der Sonne, die in Morgenröte erwachte entgegen. Diesen Krach, der den ängstlichen Seelen der gefliederten Waldbewohner zu entnehmen ist schreckte auch Mel auf. Sie hatte sich einen trockenen Platz in einem vom Baum geschützten Gebiet des Waldes schlafen gelegt. Sie weiß, dass es die Nacht vom Mittwoch auf den Donnerstag war, sie wusste auch, dass es unratsam ist bei Regenwetter seine Zeit im Wald zu verbringen. Aber sie fuhr gestern nach der Schule dirket in den Wald, denn als Tina sie auf ihr, von ihrer Mutter subventioniertes Handy anrief und ihr sagte, dass sie keine Zeit hatte, sah Mel keinen Grund nach Hause zu gehen. Ihre Mutter war momentan so sehr im Stress, dass sie keine Zeit für das Leben hatte und dadurch bedingt, sollte es für Jedermann verständlich sein, wenn sie inkommunikativ und gereizt auf ihren Mann und ihre Tochter reagiert. Diese stickige Atmosphäre konnte sie gestern nicht ausstehen und nach der Schule muss sie entspannen können, doch das ist im Innern eines Computers nun mal nicht möglich. Sie schaute auf ihre Digitaluhr: Es war halb acht und wenn sie sich nicht beeilte nach Hause zu ihrem Auto zu kommen, dann würde sie es nicht mehr rechtzeitig zur Schule schaffen. Manchmal ist man dann doch auf die Technik angewiesen. Aber Mel muss ja nun mal einsehen, dass so einige technische Utensilien des Alltags dann doch das Leben erheblich erleichtern. Nicht jedes elektronsiche Stück verpestete die Umwelt und somit kann sie ja rein theoretisch die Technik auch nur unterstützen. Es liegt wohl hauptsächlich auch daran, dass ihre Mutter so ein unbedachter Konsummensch ist, insbesondere was Technik betrifft. Warum soll man laufen, wenn man auf das Gaspedal des Autos drücken kann? Warum soll man mit der Hand schreiben, wenn man viel schneller und effizienter durch Sauberkeit und Norm am Computer Texte tippen kann? Warum soll man zu Hause telefonieren, wenn man alles auf dem Weg machen kann, einfach per Handy und Mobilfunknetze?

Fragen mit denen die Menschen oft als Argumentation und Rechtfertigung antworteten, wenn sie auch nicht wirklich eine Frage stellen!

Aber warum kamen die Menschen früher ohne Telefon zu Hause geschweige denn ohne Handy aus? Ist das Telefonieren dann Existenzgut? Warum finden die Menschen einen solchen Gefallen an Büchern und weshalb werden Handschriften als schön empfunden? Warum gilt Computertext als modern und unglaubwürdiger? Warum gibt es noch Bücher, wenn es doch das weltweite Internet gibt? Und wie tippt man Texte, wenn man, wie Mel heute im Wald ist? – per Laptop!?? Weshalb kann der Mensch laufen, wenn er ein Auto benutzen kann? Diese Fragen stellt dann doch niemand, weil ein Auto nun mal ein Auto ist, sowie ein Kuchen nun mal ein Kuchen ist. Immer alles so auslegen, wie es passt, so pflegt es jeder zu handhaben, da es ja auch am einfachsten ist. Es besteht hier kein Bedarf! Ein leises piepen ist in der Straße zu hören. Das ist das Auto von Mel, da es gerade per Fernsteuerung durch Mels Autoschlüssel geöffnet wurde. Gerade als Mel losfahren will und der Motor des Autos auch schon fahrbereit schnurt – Mels Mutter muss es überholt haben lassen– sieht Mel ihren Schulkameraden Erik winkend zu ihrem Auto laufen. „Erik!? Musst du nicht schon lange unterwegs sein? Du hast doch um zehn nach acht Schule, wie ich, oder nicht?“ fragt Mel Erik. Erik kann diese Frage nur bejahen: „Deswegen renne ich auch wie ein angestochener Affe zu Deinem Auto! Tust Du mir einen Gefallen? Kannst...“ Ohne dass Erik seinen Satz zu Ende reden durfte, presst Mel ihren Schulfreund ins Auto! Natürlich nimmt sie ihn mit! Warum auch nicht. Eine Hilfsbereitschaft die Erik für sich hoch anrechnet und entsprechend honoriert. Heute hat er gute Laune. Die Sonne scheint ja auch und ein Schwarm Vögel fliegt gerade Richtung Forst, wo sie bestimmt ihr zweites Frühstück einnehmen. Heute warten nur vier Schulstunden und die Fächer sind sogar noch interessant. Wenn er Glück hat, nimmt Mel ihn nochmal mit. Vielleicht möchte er sich ja heute nachmittag mal mit ihr treffen. Sie sind ja schließlich Nachbarn – zumindest wohnt er in der Parallelstraße. Er wohnt zwar nur in einer 72 m² Mietswohnung, zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder, aber er schätzt Mel eigentlich nicht als reiche Eingebildete ein, auch wenn ihn die Tatsache des Vermögensunterschiedes verunsichert. Noch ehe er seinen Gedanken zu Ende führen konnte, fragt Melanie bestimmend: „Sag mal, warum haben wir uns eigentlich noch nie getroffen? Du bist doch ein sehr netter Mensch und ich hoffe mal ich bin auch nicht so eine schlechte Gesellschaft! Du bist doch quasi mein Nachbar oder glaubst Du, dass uns 1128 m² grundsätzlich unterscheiden?“ So was nettes hatte Erik schon lange nicht mehr von einem „Fremden“ gehört? Ein fremder Freund – schon wieder ein Satz, der ihm unweigerlich durch den Kopf schießt. Das gehörte nun wahrscheinlich zum Höhepunkt seines bisherigen Lebens – Toll! „Was nun? Kannst Du auch sprechen? Das wäre vielleicht hilfreich...“ sagt Mel nun fordernd. Die Fahrt dauert erwartungsgemäß nur zehn Minuten und in dieser Zeit schaffte es Erik dann auch auf Mels Frage zu antworten. Er sagte ihr, dass er sich freut sich heute nachmittag mal mit ihr zu treffen und das er auch mal darüber nachdachte mit ihr über eventuelle Treffen zu reden. Im Grunde war der so gut gemeinte Smalltalk, den die beiden führen wollten ein von Euphorie und Unsicherheit bestimmtes Gestotter, dass maßgeblich von Erik ausging. Dankend verabschiedet sich Erik nun von Mel ohne sich überwunden zu haben so dreist zu sein und auch noch nach der Mitfahrgelegenheit nach Hause für den nachmittag zu fragen. Das so lang vermisste Schellen der Schulglocke setzt ein und Erik beeilt sich mit dem Stoß Schüler durch die Tür zu drängeln, um rechtzeitig zu seinen Unterricht zu gelangen. Doch bevor Erik die Tür durchschreiten kann, hört er nochmal Mel rufen: „Sag mal, du stotternder Frosch! Hast Du Lust nachher wieder mit zurück zu fahren, dann brauchst Du nicht mit dem Zug so lange fahren... Wie lange fährt der, ne Stunde?“ Erik grinst glücklich. Das ist unglaublich. Er kennt Mel jetzt seit zehn Minuten und sie weiß schon seit zehn Minuten, wie es ihm geht und was er will. Das übertrifft wieder alles, was er erwartet hätte. Mehr als seine erwartete Grundhaltung. Das ist ein guter Anfang. Der Anfang vom Ende.